Wirtschaft

BIP neu: Mehr Output, aber auch mehr Schulden

Geduldig erklärt Konrad Pesendorfer die Finessen der statistischen Methoden, gerne auch zwei oder drei Mal. Säuerlich reagiert der Generaldirektor der Statistik Austria jedoch, wenn er lesen muss, Österreichs Wirtschaftsleistung werde "größer gerechnet". Oder gar die Staatsschulden "beschönigt". Darauf angesprochen fallen seine Antworten deutlich kürzer aus. Und hörbar gereizt. Verständlich, denn das rührt an die Integrität der Zahlenmeister. Den Vorwurf, die Statistiker ließen sich politisch instrumentalisieren, weist Pesendorfer entschieden zurück.

Zentrale Messgröße

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Zuletzt musste er das wieder öfters tun. Der Grund: ESVG2010, die neuen europäischen Regeln zur Berechnung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Diese bestimmt, wie hoch das BIP ausfällt und ist damit natürlich ein Politikum. Am BIP hängt nämlich ein Rattenschwanz an brisanten Maßzahlen. Schulden und Defizit gemessen am BIP bestimmen, ob in Brüssel ein Defizitverfahren gegen einen Mitgliedstaat eingeleitet wird. Vom BIP pro Kopf hängt ab, ob eine Region bestimmte EU-Förderungen erwarten darf. Oder wie hoch der EU-Mitgliedsbeitrag eines Staates ausfällt. Und und und.

Eine Revision der BIP-Berechnung ist also eine schwerwiegende Angelegenheit. Fünf Fachabteilungsleiter und Direktoren der Statistik Austria standen am Montagabend bereit, um Journalisten die Details zu erklären, ein weiteres Dutzend Experten hielt sich für Zusatzauskünfte bereit.

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UNO-Vorgaben

Der Hintergrund: 2008 haben sich die Vereinten Nationen (UNO) auf eine einheitliche Methode zur BIP-Ermittlung geeinigt. Die USA oder Australien haben das längst umgesetzt, in der EU müssen ab Oktober 2014 alle Zahlen nach dem neuen Standard an Eurostat nach Luxemburg gemeldet werden. Die Auswirkungen für Österreich: Das BIP 2013 beträgt 322,6 Mrd. Euro (statt 313,1 Mrd. nach alter Berechnung), das reale Wirtschaftswachstum betrug demnach im abgelaufenen Jahr nur magere 0,2 Prozent.

Die zusätzlichen 9,5 Mrd. Euro durch die Neuberechnung kommen vor allem daher, dass Ausgaben für Forschung und Entwicklung jetzt als (BIP-wirksame) Investition gelten und nicht mehr als Vorleistung für ein neues Produkt. Ähnlich verhält es sich mit staatlichen Waffensystemen, was aber bei Österreichs mickrigen Rüstungsausgaben kaum ins Gewicht fällt.

Mehr Staat, zu wenig privat

Neu ist weiters, dass einige Unternehmen nun dem Sektor Staat zugerechnet werden müssen, weil sie weniger als die Hälfte ihrer Kosten (inklusive Zinsaufwand) mit Hilfe von Verkaufserlösen (also über den "Markt") einspielen: Gut für die Wirtschaftsleistung, schlecht für die Staatsschulden, die dadurch wohl über 80 Prozent des BIP steigen werden. Wie hoch exakt will die Statistik in einer Woche bekannt geben. Konkret betrifft diese Umklassifikation die ÖBB Infrastruktur, den ÖBB Personenverkehr, die Wiener Linien und im Gesundheitsbereich alle Landeskrankenanstalten, 16 weitere gemeindeeigene Spitäler wie das Wiener AKH und einige Ordensspitäler. Gesamteffekt fürs BIP: ein Plus von 8,6 Mrd. Euro oder 2,8 Prozent.

Anders als von manchen Beobachtern vermutet fallen die Autobahngesellschaft Asfinag oder der ÖBB Güterverkehr nicht zum Sektor Staat. Weitere BIP-Umstellungen: Grenzüberschreitende Dienstleistungen unter Banken fallen raus (-1,4 Mrd. Euro), nicht beitragsgedeckte Pensionszusagen des Staates für Beamte werden neu bewertet (-2,7 Mrd. Euro) sowie andere Effekte, die kumuliert mit -3 Mrd. Euro ins Gewicht fallen.

Schattenspiele und Illegales

Mehr mediale Aufmerksamkeit als von Pesendorfer gewollt erhält auch der Einfluss der Schattenwirtschaft sowie illegaler Wirtschaftsbereiche auf das BIP. International hat es hohe Wellen geschlagen, dass der Drogenhandel, Tabakschmuggel und die illegale Prostitution auf dem Weg von Schätzungen ebenfalls Eingang in das Zahlenwerk finden. Es ist allerdings methodisch stimmig und keine neue Vorgabe - von der Statistik Austria wird das nach internationalen Modellen schon jahrelang berechnet.

In Zahlen gefasst: Mit illegaler Prostitution, Drogenhandel und Zigarettenschmuggel werden in Österreich laut Statistik Austria 460 Mio. Euro erwirtschaftet - "also kein Konjunkturmotor", scherzt Direktor Karl Schwarz. Die Schattenwirtschaft (Geschäfte ohne Rechnung, klassische Schwarzarbeit, aber auch Trinkgelder) soll auf rund 11,4 Milliarden Euro - rund 3,7 Prozent des BIP - kommen.

Diffizile Wertschöpfung

Auch wenn die Statistik-Profis betonen, dass die BIP-Ermittlung höchsten wissenschaftlichen Standards entspricht, so machen sie kein Hehl daraus, dass es vielfach nötig ist, sich der Wirklichkeit mit Krücken zu nähern. Da wird dann zugeschätzt, imputiert und unterstellt oder mit Modellen gearbeiten, wo die Datenlage nicht ausreicht. Denn gerade bei der Erfassung der globalisierten Produktionsabläufe und weltweiten Handelsketten gibt es zwar Fortschritte, aber auch noch viele Unschärfen.

Man könnte das als unausgesprochene Warnung verstanden wissen: Dem BIP wird politisch und medial zu viel Bedeutung geschenkt. Die Wirtschaft und die gesellschaftliche Realität sind viel zu komplex, um sie anhand einer einzigen Messgröße sinnvoll abzubilden.