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"Wir sind mittendrin in der Überwachungsgesellschaft"

Wenn in Deutschland jemand gebraucht wurde, der den Leuten das Internet erklärt, dann war das in den vergangenen Jahren immer wieder ein Berliner Blogger mit rotem Irokesen-Haarschnitt: Sascha Lobo. Als Vorkämpfer des freien Netzzugangs schwärmte der Autor in Interviews, Beiträgen und Talkshows wortreich von der neuen Demokratisierung des Wissens. Und dann das: Anfang des Jahres postulierte Lobo in der F.A.Z.: "Das Internet ist kaputt". In seiner Abhandlung über die "digitale Kränkung" schrieb er: "Das Internet ist nicht das, wofür ich es so lange gehalten habe. Ich glaubte, es sei das perfekte Medium der Demokratie und der Selbstbefreiung. Der Spähskandal und der Kontrollwahn der Konzerne haben alles geändert."

Bei den Österreichischen Medientagen zeichnete Lobo, im Ton unterhaltsam, aber anhand schauriger Beispiele (siehe unten), das apokalyptisch anmutende Bild eines vernetzten "Plattform-Kapitalismus", der auf Überwachung, Kontrolle und Beeinflussung des User-Verhaltens setzt. Im KURIER-Interview erklärt Lobo, wie es zu seinem Umdenken kam und was der einzelne Internetnutzer dazu beitragen kann, um zu einer neuen "Ethik der Vernetzung" zu gelangen.

KURIER: Sie haben in Ihrem Vortrag den US-Sicherheitsexperten Bruce Schneier zitiert: "Überwachung ist das Geschäftsmodell des Internets". Maßgeschneiderte Werbung, die sich am Userverhalten orientiert, gibt es aber schon seit einigen Jahren. Warum hat die NSA-Affäre bei Ihnen zu diesem drastischen Umdenken geführt?

Sascha Lobo: Weil die Diskussion eine neue Qualität bekommen hat. Wenn die Überwachung von Staaten, auf Basis von Behörden, ausgeübt wird, dann ist ein weiterer Lebensbereich betroffen. Der Staat hat Macht über mich. Da können ganz ernsthafte Konsequenzen folgen aus der Überwachung und aus den Schlüssen, die man daraus zieht. Im privatwirtschaftlichen Bereich, den man übrigens nicht in allen Fällen von staatlicher Überwachung trennen kann, ist das so erst einmal nicht der Fall. Trotzdem greift das ineinander. Und der Grund, warum ich mittlerweile intensiv davor warne, ist natürlich, dass wir durch die Enthüllungen von Edward Snowden gesehen haben, dass wir nicht in eine Überwachungs- und Kontrollgesellschaft hineinschlittern, sondern dass wir seit vielen Jahren mittendrin sind und dass die negativen Folgen schon heute spürbar sind.

Dennoch: Marktforschung gibt es schon sehr lange und nutzeroptimierte Werbung im Internet schon seit Jahren. Warum warnen Sie gerade jetzt?

Dieses „Jetzt gerade“ ist ganz eindeutig Snowden geschuldet, der nicht nur für die Aufdeckung der staatlichen und behördlichen Überwachung viel geleistet hat, sondern dieses Thema ganz einfach in die Öffentlichkeit gebracht hat. Der Grund, warum auch die Überwachung durch Konzerne zu meinem Thema geworden ist, ist, dass man das in vielen Bereichen kaum mehr voneinander trennen kann. Unter anderem deswegen, weil viele große Konzerne daran arbeiten, diese Daten zu offenbaren, die dann von Geheimdiensten ausgewertet werden. Es gibt Zeugnisse von ersten, sehr frühen Treffen von US-Behörden mit Facebook. Und angeblich sogar strukturelle Einflussnahme von Nachrichtendiensten auf die Art und Weise, wie Facebook funktioniert. Ich kann das im Detail nicht beweisen oder nachvollziehen, es liegt aber vergleichsweise nahe, wenn auf einer Folie der NSA steht, Facebook sei das perfekte Überwachungstool. Ja, das stimmt auch. Das ist aber nicht nur die Schuld von Facebook, ich möchte Facebook nicht grundsätzlich verteufeln. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Überwachung von staatlicher Seite und von Konzernen ineinandergreift.

Wie lebt es sich nach der von Ihnen beschriebenen "digitalen Kränkung"? Haben Sie Ihr Nutzerverhalten geändert?

Mein Nutzungsverhalten hat sich geändert, in Teilen jedenfalls. Natürlich verschlüssele ich mehr. Vorher war das eher eine symbolische Angelegenheit, jetzt ist das auch eine ganz handfeste, substanzielle Kommunikationsangelegenheit. Und gleichzeitig versuche ich natürlich auch, mein Kommunikationsverhalten nach außen zu verändern. Ich schreibe viele Artikel, halte viele Vorträge, ich versuche viel Wissen in die Öffentlichkeit zu bringen über das, was dort passiert.

Es beherrscht aber wohl nicht jeder einfache Nutzer die Verschlüsselungstechniken, die Sie verwenden. Wahrscheinlich sind diese auch noch nicht einfach genug zu bedienen. Was kann man also tun?

Es ist tatsächlich leider wahr, dass zum Beispiel Mail-Verschlüsselung noch immer eine komplizierte Angelegenheit ist, auch wenn ein paar Nerds behaupten, das sei total einfach. Es hat bei mir eine Dreiviertelstunde gedauert, bis ich das alles einigermaßen eingerichtet hatte, und das alles nur, weil ich vorher schon theoretisch wusste, wie das praktisch funktioniert. Ich beschäftige mich den ganzen Tag privat und beruflich damit. Aber ich kann mir vorstellen, dass andere Leute länger brauchen und einfach aufgeben. Ja, es ist zu kompliziert. Ja, wir müssen es vereinfachen. Ja, da muss der einfache Bürger darauf warten, bis Verschlüsselung einfacher wird. Aber zum einen passiert es und zum anderen muss man nicht nur warten.

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Sie appellieren an die Zivilgesellschaft. Wie wäre es möglich, dass der von Ihnen geforderte Gegenwind auch spürbar wird?

Man kann versuchen, die Stimme zu erheben. Man kann versuchen zu protestieren, man kann zu Demonstrationen gehen. Man kann zu seinen Abgeordneten gehen. Und überall dort kann man Bescheid geben, dass man nicht einverstanden ist damit, dass so radikal überwacht wird oder, im Falle von Österreich, dass so hemmungslos und ohne Schranken Daten weitergegeben werden vom Geheimdienst an alle möglichen anderen Partnerdienste.

Sie regen auch die Frage an: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Haben Sie diese für sich schon beantwortet?

Ich habe diese Frage für mich politisch beantwortet. Ich würde mich links der Mitte verorten, gesellschaftsliberal und halte Demokratie und da insbesondere Verfassungsdemokratie für wichtig und sinnvoll. Das ist auch mein großes Problem mit dieser radikalen Überwachung, dass sie verfassungsfeindlich ist. Und schließlich habe ich einen sozialen Einschlag, weil ich glaube, so als Vision, dass die Existenznot abgeschafft werden sollte. Das alles zusammengerührt ergäbe ungefähr eine Gesellschaft, in der ich Leben wollen würde und da arbeite ich auch drauf hin. Ich kann aber auch akzeptieren, wenn andere Leute da andere Einstellungen haben.

Sie haben früher die SPD in Internetfragen beraten. Setzen Sie mittlerweile keine Hoffnung mehr in die Politik, dass klare Maßnahmen ergriffen werden?

Vor Snowden hatte ich tatsächlich einen Teil meiner Hoffnungen aufgegeben, was die Politik angeht. Das erschien mir so unendlich und unerträglich langsam. Seit Snowden weiß ich: Es geht leider nicht ohne Politik, man muss sie einbeziehen. Man muss einfach, so schwer es fällt, wenn man sich, wie ich, als eine Art Bürger- oder Privatlobbyist für eine freie und offene Gesellschaft begreift, sich daran gewöhnen, dass die Politik noch viel langsamer ist als man ohnehin schon befürchtet hat, und noch viel stärker dieses Triple-Schritt-Phänomen zeigt: zwei Schritte nach vorn, einen zurück. Ich fürchte, es wird eine sehr langwierige, aufreibende, energieintensive Angelegenheit, aber es ist trotzdem nötig.

Was sagen Sie zu einem Unternehmer, der meint, man müsse diese Technologien nützen, weil man ansonsten nicht mehr gewinnorientiert arbeiten oder weiter wachsen könne?

Ich bin selbst auch Unternehmer, in einem spannenden Feld. Ich versuche, die nächste Generation der E-Books mitzuentwickeln: Sobooks, oder Social Books - wie der Name schon sagt, spielen hier auch soziale Daten eine Rolle. Grundsätzlich sage ich, wenn ich mit Unternehmern debattiere, als Allererstes, dass es viele Instrumente gibt, die man auf eine gute oder auf eine nicht so gute Art und Weise benutzen kann. Aus einer Landmine lässt sich z.B. beim besten Willen nichts Positives basteln. Aber in den meisten digitalen Fällen muss man im Einzelfall schauen: Was bringt die Gesellschaft voran, im Sinne einer selbstbestimmten, freiheitlichen, demokratischen, sozialen Gesellschaftsordnung und was bringt die Gesellschaft nicht voran? Das kann man nicht pauschalisieren, schon gar nicht geht es darum, den Fortschritt komplett abzuwürgen oder zu verteufeln. Es geht um die Richtung des Fortschritts und das ist so ziemlich genau das, was ich mit Leuten aus der Wirtschaft bespreche.

Glauben Sie, dass die „digitale Kränkung“ auch viele normale Nutzer verspüren? Gibt es ein Unbehagen mit dem Internet, das sich darin äußern könnte, dass man sich eher zurückzieht aus den sozialen Netzwerken?

Was meinen F.A.Z.-Artikel aus dem Januar betrifft, wo ich die „digitale Kränkung“ der Menschheit in Anklang an Sigmund Freud postuliert habe, glaube ich, es gibt gar nicht so viele Leute, die das konkret so verspüren wie ich. Ich glaube aber, dass das ein schleichender Prozess ist, der durchaus problematisch ist, weil er die Gesellschaft verändert – und zwar zum Negativen. Wenn Menschen standardmäßig davon ausgehen, dass sie überwacht werden, wenn dieses Gefühl überhand nimmt - "Auf einmal ist dieses Internet da, das mich auch ständig überwacht" -, dann verändern die Menschen ihr Verhalten. Und das kann zu schlimmen Problemen führen und ist definitiv eine Einschränkung der Freiheit. Deswegen denke ich, dass man dagegen angehen muss, und dazu gehört auch, dass man protestiert. Dass man merkt: OK, es gab eine Kränkung, es gibt offenbar einen Missbrauch des Internets und der Instrumente der digitalen Gesellschaft und dem müssen wir entgegenarbeiten.

Die User werden belauert, meint der Deutsche mit der markanten Irokesenfrisur, wie die Maus von der Katze. Und so wie die Katze die Fluchtbewegungen der Maus erfolgreich antizipiere, arbeite das Netz daran, jeden Schritt des Users vorauszusehen und zu kontrollieren. Dies sei der eigentliche Mehrwert in der Netzökonomie.

Grundlage dafür ist exzessive Datensammlung. "Patterns of Life", also "Lebensmuster", bilden die Grundlage, gemeinsam mit Konsumdaten: "Ich fürchte, Werbung hat sich in eine Überwachungsdisziplin verwandelt", so der Ex-Werber. Und beides gäben die User bereitwillig selber Preis: Nicht umsonst ermöglichten Shopping-Giganten wie Amazon das "Sharen" von jüngst getätigten Einkäufen.

Überhaupt, das "Sharen", also "Teilen": Es ist nach Ansicht Lobos ein Grundpfeiler eines neuen "Plattformkapitalismus". Das Angebot könne von jedem kommen - etwa via Plattformen wie AirBnB oder Uber. Die Nachfrage werde "versteigert". Dies entwerte letztendlich den Faktor Arbeit: "Überall dort, wo Arbeit geleistet wird, taugt der Plattformkapitalismus gut, um mit dem Angebot der Amateure die Preise der Profis zu drücken."

Zahnbürsten und Fahrstil-Monitor

Überwachung und Kontrolle seien aber nicht das Ende der Fahnenstange, glaubt Lobo, der seine apokalyptischen Thesen mit einem Hauch heiterer Gelassenheit präsentierte. Die Beeinflussung des Userverhaltens als nächster Schritt sei bereits Realität. Als Beispiel diente ihm der Fahrstil-Monitor des Mietwagen-Unternehmens Car2Go ebenso wie eine elektrische Zahnbürste, die permanent mit einer App verbunden wird.

Nur eine Frage der Zeit, bis da die Krankenkassen auf die Idee kommen, ihren Tarif nach der - überwachten - Häufigkeit des Zähneputzens zu staffeln, so die unheilvolle Vision. Und ein Pilotversuch in München teste gerade ein Überwachungssystem, mit dem Verbrechen vorhergesagt werden sollen. Wer da an den Sci-Fi-Thriller "Minority Report" denke, habe Recht, so Lobo.

Sensoren in Apple Watch

"Es gibt keine natürliche Grenze" dafür, sieht Lobo mit der Apple Watch schon die nächste Stufe erreicht. Deren Sensoren würden auf lange Sicht ungeahnte Möglichkeiten der Überwachung, Kontrolle und Beeinflussung bieten.

"Das ist der Eingang von Gesundheitsdaten in die digitale Vernetzung" - eine Perspektive, die die heimische Debatte über ELGA als hoffnungslos altmodisch erscheinen lässt. "Ich werde mir die Apple Watch natürlich auch kaufen, denn sie ist total toll und teuer", sorgte Lobo für Gelächter im Saal. "Aber ich möchte eine solche Uhr benutzen können, weil ich sie für einen tolle Erfindung halte, ohne Angst zu haben, dass meine Krankenkasse drei Tage später sagt: 'Oh, Sie sind aber ganz schön träge. Wir erhöhen den Tarif mal.'"

Angesichts dieser Entwicklungen sei die zentrale Frage: "In welcher Gesellschaft wollen wir leben?", so Lobos abschließender Appell. Die von ihm geforderte "Ethik der Vernetzung" müsse am Anfang netzpolitischer Überlegungen stehen. Denn einfach nur rasch Gesetze zu beschließen, greife zu kurz: Dies wäre bloß "hektischer Aktionismus und Populismus".

(APA)