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"Analyse und Kommentar sind Chancen"

Lothar Müller, Autor, Literaturwissenschaftler und Redakteur der Süddeutschen Zeitung sagt, wo die Chance von Printmedien liegen.

KURIER: Sie kritisieren den angeblichen Gegensatz zwischen Buchzeitalter und Internet.
Lothar Müller: Wenn man immer nur Buch und Netz einander gegenüberstellt, dann argumentiert man aus der Perspektive der Druckerpresse. Papier ist aber auch ein offenes, universelles Medium, genauso wie das Internet, nur eben in einer analogen Welt.

Sie sprechen von der Faustregel, dass Newcomer Mimikry mit den älteren Medien betreiben. Ist es sinnvoll, wenn Internetmedien Print kopieren?
Das Papier ist groß geworden, in dem es andere, schwerer zu beschaffende Datenträger ersetzt hat. Nun wird das Papier selbst ersetzt. Trotzdem muss man genau schauen. Wenn an McLuhans Schlüsselsatz „The Medium is the Message“ auch nur ein bisschen was dran ist, dann kann man Content nicht ohne Konsequenzen in ein anderes Medium übertragen. Die elektronische Zeitung wird ihre eigenen Rituale ausbilden müssen. Das gilt vor allem für zwei Effekte, die sich im Medientransfer unterscheiden. Der eine ist, dass eine auf Papier gedruckte Zeitung temporal in sich abgeschlossen ist. Im elektronischen Medium haben Sie mehr Optionen. Sie können Zeitungsseiten faktisch entgrenzen. Man kann Artikel mit Links versehen, die aus der Seite hinausführen. Und dann gibt es die Offenheit der Zeit. Die Abgeschlossenheit der Papierzeitung im elektronischen Medium nachzuahmen, wäre eine künstliche Abschottung. Man kann nicht einfach eine Printseite als Vorbild für Internet nehmen.

Das klingt wie ein ausschließlicher Nachteil, den Print gegenüber dem Internet hat.
Das kann man so oder so sehen. Die Möglichkeit der ständigen Aktualisierung ist dann ein Vorteil, wenn Sie das als höchsten Wert sehen. Doch Verspätung muss kein Übel sein. Die Sportseiten in den Tageszeitungen am Montag leben nicht vom Nachrichtenwert, sondern vom starken Autorenprinzip. Es werden sehr gute Texte produziert, die eine analytische, kommentierende oder erzählerische Ebene in die schon bekannten News bringen.

Sie haben Ihre berufliche Karriere noch ausschließlich analog begonnen – auf der Schreibmaschine.
Dass Nachrichten in die Redaktion fluten, gab es schon immer. Jetzt erleben wir ihre Abkoppelung vom Monopol der Öffentlichkeit. Wenn alle twittern, dann löst sich das Nachrichtenmonopol der klassischen Informationsmedien auf.

Wir sehen, dass Printzeitungen massiv geschwächt werden, aber nicht das Fernsehen, obwohl das Fernsehen doch das gleiche Problem dem Internet gegenüber hat.
Es gibt eine erstaunliche Stabilität dieser älteren Medienformate, die sich auch von der Echtzeit abkoppeln – sie können über Mediatheken im Internet alles abrufen. Die Frage ist: In wie weit übernehmen Radio und Fernsehen die Funktionen, die die Printpresse hat. Das ist in Deutschland besonders von Belang, weil der öffentlich rechtliche Rundfunk subventioniert wird, aber die Tageszeitungen nicht.

Dem Fernsehen wurde mit dem Aufkommen der On-Demand-Angebote schon vor 20 Jahren das Ende prophezeit. Doch es hat sich gezeigt, dass die Menschen sich immer noch freuen, wenn sie einen Film im Fernsehen sehen, auch wenn sie ihn anderswo auf Abruf sehen könnten. Es gibt ein Bedürfnis nach Vor-Auswahl.
In meiner Lebenszeit ist die wichtigste Fernsehinnovation nicht das Farbfernsehen, sondern die Fernbedienung: Sie hat die Nutzungsgewohnheiten nachhaltig verändert. Es gibt heute eine Vervielfachung der Optionen: Eine Multiplizierung der Sender bei gleichzeitiger technischer Möglichkeit, in schneller Folge kurzfristig sehr viel wahrzunehmen. Das, was man nutzt, ist eine Reduktion der Optionen zu dem, was man wirklich sieht. Und in dem Maße, wo das Fernsehen zu einer Explosion von Optionen wurde, ist das Kino ein Ort, der dadurch definiert ist, dass man nicht umschalten kann. Die Leute schätzen das Kino genau deshalb: Man wird entlastet von der Option, zwischendurch zu den Nachrichten umzuschalten.

Die Entlastung von Optionen: Wäre das nicht eine Überlebensstrategie für Printmedien? Eine kluge Auswahl als Kontrapunkt zur unübersichtlichen Alles-Verfügbarkeit?
Ja, darum geht es: die Auswahl zu treffen, zu kommentieren, nicht unbedingt der Erste sein zu müssen. Die einstige Konkurrenz um zeitliche Aktualität ist zu Ende. Jetzt geht es um die Konkurrenz der Einordnung, Kommentar, Analyse. Um die Frage: Was bedeutet das, was ich melde? Das wird die Chance der Printmedien sein.

Konkrete Prognose: Werden Print-Medien überleben?
Bis zu meiner Pensionierung – ich bin Ende 50 – wird es mein Medium garantiert noch geben.

Ich bin 40 – wie schaut es mit mir aus?
Für Sie sind die Prognosen auch ganz gut.

Und wenn Ihre Kinder Journalisten werden wollen?
Ich würde ihnen nicht abraten. Ich würde ihnen empfehlen, darüber nachzudenken, was dieser Berufswunsch bedeutet.