Mehr als ein Duell der Superstars
Wir sollten so spielen, wie man gegen einen Freund im Hinterhof kickt." Wenn es doch nur so einfach wäre, wie sich das Brasiliens Superstar Neymar vor dem heutigen Viertelfinale gegen Kolumbien vorstellt (22 Uhr).
Denn der Druck ist groß auf der Seleção, ebenso die Angst im Land, zum dritten Mal in Folge in einem WM-Viertelfinale zu scheitern: 2006 gegen Frankreich, 2010 gegen die Niederlande – beide Gegner standen anschließend im Finale.
Eine zusätzliche Motivationsspritze für Kolumbien? Die "Cafeteros" erhalten Unterstützung von höchster Stelle, Staatschef Juan Manuel Santos, vor zwei Wochen wiedergewählt, kommt samt Familie zum Daumendrücken nach Fortaleza.
Brasiliens steht nicht nur unter Druck, sondern auch in der Kritik. Das Team hat nur selten jenen souveränen und begeisternden Fußball gezeigt, den sich die Fans erwartet hatten. "Weniger Herz, mehr Fußball", fordert daher auch Teamchef Luiz Felipe Scolari von seinen Spielern, mit denen im Achtelfinale gegen Chile teilweise die Emotionen durchgingen. Die Brasilianer standen mit einem Fuß im Aus, retteten sich über das Elfmeterschießen zurück ins Turnier.
Zwei Superstars
Brasilien gegen Kolumbien wird aber auch gerne reduziert auf das Duell zwischen Neymar und James Rodriguez. Vier Mal hat bisher Neymar getroffen, Rodriguez gar fünf Mal. Neymar sieht sich nicht im Mittelpunkt des Geschehens. "Wir sind hier, um zu gewinnen. Wir sind nicht hier, um ein Spektakel zu zeigen und auszuscheiden." Der Zweck, das Halbfinale, soll die vielleicht wenig ansehnlichen Mittel heiligen.
Eine Abhängigkeit
Was man von seiner eigenen Mannschaft nicht immer behaupten kann. Denn Brasilien hing bei den bisherigen vier Auftritten sehr von den Künsten Neymars ab, verfügt über keinen Mittelstürmer, der den hohen Anforderungen entspricht. Sowohl Fred als auch Ersatzmann Jo konnten die kritischen Landsleute nicht vom Gegenteil überzeugen. Beide sind für brasilianische Verhältnisse spielerisch limitiert.
Noch dazu fehlt heute der gesperrte zentrale Mittelfeldmann Luiz Gustavo, der voraussichtlich von dem bisher auch nicht überzeugenden Paulinho ersetzt wird.
Kolumbien, das erstmals in der Historie in einem WM-Viertelfinale steht, will ein weiteres Kapitel in dieser Erfolgsgeschichte anfügen. Elf Tore in vier Spielen – und das, obwohl der beste Stürmer, Falcao, nach einem Kreuzbandriss fehlt.
Teamchef José Pekerman verspricht ein großartiges Spiel: "Es wird ein Spiel mit schönen Toren. Die Leute werden es genießen."
Die Frage nach einem Sieger: Damit kamen politische Reporter zuletzt in Kolumbien nicht weit. Denn auch wenn gerade die Stichwahl um den Präsidenten in dem südamerikanischen Andenstaat stattgefunden hat, von Politik wollten und wollen nur die wenigsten etwas wissen. Also lautete die Standardantwort: "Kolumbien natürlich!".
Dass man sich obendrein zwischen Amtsinhaber Juan Manuel Santos und seinem rechten Herausforderer Oscar Ivan Zuluaga zu entscheiden hatte, lief für die meisten unter Nebensächlichkeiten.
Allzu ausführliche politische Debatten ließ der Fußballrausch, der die ganze Nation erfasst hat, ohnehin nicht zu. In einem Land , in dem sich – laut Umfragen – gerade einmal sechs Prozent der Menschen nicht für Fußball interessieren und gerade einmal 45 Prozent zur Präsidentschaftswahl gingen, sind die Interessen ohnehin eindeutig gewichtet.
Kein Wunder dass sich auch Santos die WM-Begeisterung zunutze machte. "Gestern gewann das Nationalteam, heute gewinnt der Frieden", war das Motto seiner Abschlusskundgebung. Tatsächlich setzte sich der gemäßigte Politiker mit knapper Mehrheit durch – und damit werden auch die Friedensgespräche fortgesetzt, die Kolumbiens Bürgerkrieg nach mehr als einem halben Jahrhundert endlich beenden sollen.
Die linke Farc-Guerilla, die den Krieg gegen Kolumbiens meist stramm rechte und von den USA finanzierte Regierungen seit den Sechzigern angeführt hat, hat sich schon vor zwei Jahren zu Friedensgesprächen bereit erklärt. Seither kommen die Verhandlungen allerdings nur mühsam weiter und werden immer wieder von blutigen Zusammenstößen unterbrochen. Die Farc, die ihren Kampf mit Anbau und Handel Kokain finanziert, beherrscht weiterhin, allerdings schrumpfende Gebiete im Hochland Kolumbiens. Im Milliardengeschäft mit Kokain mischen auch andere mächtige Spieler mit: Drogenbarone, die eigene schwerbewaffnete Milizen für ihre Interessen kämpfen lassen.
Kriegsmüde
Doch die Bevölkerung hat vom Krieg längst genug – und versucht den möglichst zu verdrängen, auch mit Fußballbegeisterung. Die ufert zwar manchmal so aus, dass es sogar zu Schießereien kommt. Doch die liebsten Waffen der Kolumbianer sind derzeit Mehl und Rasierschaum. Mit denen werden andere Fangruppen im Überschwang ordentlich eingeseift. Da es dabei auch schon Verletzte gab, ist kein Mittel vor dem heutigen Viertelfinale verboten.