Mit 100 Jahren mitten im Beruf
Von Georg Markus
Er kommt mir forschen Schritts entgegen. Dennoch frage ich Marko Feingold vorsichtig, ob wir die Fotos draußen auf der Straße machen können oder ob das zu mühsam für ihn sei. „Mühsam?“ reagiert er erstaunt. „Für Sie vielleicht – für mich nicht!“ Und schon eilt er die Stiegen hinunter und die steile Seitenstettengasse hinauf, dem Fotografen entgegen. Marko Feingold ist in Wien, um an einer Sitzung der Israelitischen Kultusgemeinde teilzunehmen. Er ist jedenfalls der jüngste 100-Jährige, dem ich je begegnet bin. Und das nach einem Leben voller Katastrophen und Schicksalsschläge.
Büro und Vorträge
Marko Feingold ist Präsident der Kultusgemeinde in Salzburg. „Es ist viel zu tun, obwohl es bei uns nur mehr 70 Juden gibt. Aber es gibt auch Antisemiten. Letztens hatte ich das Problem, für einen jüdischen Arzt aus Russland eine Stelle zu finden.“
Nächsten Dienstag wird Marko Feingold 100 Jahre alt. Und das mit Fulltimejob. „Ich bin drei bis vier Mal in der Woche im Büro und halte noch viele Vorträge, manchmal zwei bis drei am Tag.“
Wir gehen, als die Fotos fertig sind, zurück ins Gebäude der Wiener Kultusgemeinde – nein, wir gehen nicht: wir laufen. „Hinauf geht’s schneller als hinunter“, sagt er, und schon sind wir im zweiten Stock, wo er seine Erzählung ohne Luft zu holen fortsetzt.
Gefälschte Papiere
Die Brüder flüchten nach Prag, arbeiten dort nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland mit Hilfe eines SS-Mannes, den sie noch aus Wien kannten und mit gefälschten Papieren. Sobald ihre jüdische Identität auffliegt, werden sie in Viehwaggons nach Polen deportiert. Als Marko Feingold im Konzentrationslager Auschwitz sein Geld abliefern muss, sagt ein Mithäftling zu ihm: „Du wirst es nicht mehr brauchen, deine Lebenserwartung beträgt drei Monate, dann gehst du durch den Kamin.“
Marko Feingold wiegt bei körperlicher Schwerstarbeit nur noch 30 Kilogramm. Er erleidet drei weitere KZs, darunter Dachau und Buchenwald, wird gefoltert und blutig geschlagen und zählt mit seiner Zähigkeit dennoch zu den wenigen, die überleben.
Wie jedes Jahr war der bald 100-Jährige auch heuer im April als Zeitzeuge mit jungen Leuten in Auschwitz.
Keiner hat überlebt
Nach der Befreiung aus Buchenwald im April 1945 fährt Feingold mit einem Bus Richtung Wien, steigt aber in Salzburg aus und bleibt. Er organisiert die Umsiedelung Zehntausender osteuropäischer Juden über Österreich nach Palästina. Er heiratet und eröffnet 1948 mit einem Teilhaber ein Modegeschäft.
Schneeschaufeln
Feingold leitet die Kultusgemeinde Salzburg – mit Unterbrechungen – seit 67 Jahren. „Ich glaube an eine höhere Macht, bin aber nicht besonders religiös, das muss man bei uns nicht sein.“ Und er bleibt auch mit 100 Präsident. „Was soll ich tun? Ich finde keinen Nachfolger.“ Er betreut die Synagoge, erledigt alles selber, inklusive Schneeschaufeln im Winter.
Erstaunlich, dass dieser Mann sein Leben lang kränklich war. „Einmal abgesehen von der NS-Haft, hatte ich ständig Magenbeschwerden und Bandscheibenprobleme. Gesund bin ich erst im Alter geworden. Heute fühl ich mich, als wär ich 80.“
Respektsperson
Feingold ist eine in Salzburg allseits bekannte Respektsperson. Die Leute grüßen ihn, wenn er im Eiltempo unterwegs ist. Der 100. Geburtstag des Hofrats und Ehrenbürgers der Stadt wird mit einem Fest in der Erzbischöflichen Residenz gefeiert, „dort, wo man vor 500 Jahren die Juden vertrieben hat“. Bürgermeister Schaden wird die Laudatio halten.
„Dass ich noch tätig bin und gebraucht werde, ist ein Geschenk“, sagt Marko Feingold. „Aber ich weiß, dass ich 100 bin und hab mit allem abgeschlossen. Ein, zwei Jahre schaff ich noch, aber ich kann mich auch heute verabschieden. Alles ist vorbereitet, ich hab für alles gesorgt.“