Die Buchstabenmalerin
Von Uwe Mauch
Schon wieder Oktober! Die Blätter in ihrem Garten haben sich bereits rot und gelb gefärbt. Und schon wieder eine Woche der Entscheidungen: Heute wird in Stockholm verlautbart, wer am 10. Dezember mit dem diesjährigen Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet werden soll.
Bis Freitag fallen weitere Namen – von Physikern, Chemikern, Ökonomen und Literaten.
Die Entscheidungen der Nobelpreis-Gremien werden traditionell gegen Mittag bekannt gegeben. Binnen Sekunden rast dann die Kunde rund um den Erdball. Auch in Hagenbrunn, einem gepflegten Weinort am Rücken des Bisambergs, wird sie ankommen. Doch scheint Nobel dort niemanden zu interessieren.
Kümmelbraten statt Nobel
Die Heurigenlokale, die ausg’steckt haben, werden auch heute zu Mittag g’steckt voll sein. Es wird erneut nach Kümmelbraten, jungem Wein und purer Lebenslust riechen.
Anders nur ein paar Häuser weiter: Annika Rücker begibt sich in diesen Stunden in Klausur. Die naturverbundene Kalligrafin hat jetzt auch kein Auge mehr für die Rosenstöcke vor ihrem Atelier. Alles ordnet sie dem Nobelpreis unter.
Hochspannung, StilleDie in Schweden verehrte und in Österreich kaum bekannte Künstlerin hat sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Es ist eine ambivalente Welt: Rücker versucht, die Buchstaben auf dem Papier zum Tanzen zu bringen, gleichzeitig gestattet sie sich nicht den geringsten Ausrutscher mit ihrer Feder.
Langes Leiden! Die Nazis haben ihrem Vater die Heimat gestohlen. Im Frühjahr 1938 floh Fritz Rücker von Wien nach Stockholm. Ihm verdankt sie ihre Leidenschaft. Als kleines Mädchen durfte sie abends im Nachthemd an seinen Arbeitstisch treten, kein Wort sprechen, aber stundenlang zusehen, wie der Vater seine Werbesujets entwarf.
Sie selbst hat in den 1960er-Jahren an der Angewandten in Wien studiert. Die drei Jahre in der Meisterklasse für Schrift- und Buchgestaltung waren hart und lehrreich. Sagt sie. Die Mitarbeit im Ateljé ihres Vaters und beim schwedischen Hofgrafiker ebenso wichtig.
Mit der Gänsefeder
Die Zeit drängt. Annika Rücker kann sich immerhin auf ihre Routine verlassen (schon bald werden es 200 Nobelpreis-Urkunden aus ihrer Feder sein). Bio- und Fotografien, Bücher, Artikel, Würdigungen – sofort nach Bekanntgabe der Preisträger wird sie versuchen, an möglichst viele Informationen über die zu Ehrenden heranzukommen. Ihr Credo: „Jede Urkunde muss einzigartig sein. Jeder bekommt daher von mir auch ein Monogramm.“
Sie genießt das Licht in ihrem Atelier am Bisamberg. Dieses Licht sei für sie besser als das Herbstlicht in Stockholm. Auf ihrer Schreibplatte liegt handgeschöpftes Papier. Wertvoll, weil ein Unikat. Unberechenbar, weil ein Stück Natur.
Wird es die Farbe ansaugen oder abweisen? Soll sie besser zur Gänse-, Schwanen- oder zur Truthahnfeder greifen? Und dann taucht eine Feder in den Farbtopf. Wo soll sie beginnen? Ein falscher Schwung, ein falscher Punkt, eine nicht ausreichend lockere Handbewegung beim Auftragen, ein Farbklecks – und alles wäre vergebens!
Ins Gesicht geschrieben
Ihr Adrenalinspiegel wird in die Höhe rasen wie der eines Marathonläufers. Es wird Stunden dauern, bis sich der Text der Professoren auf dem Papier abzeichnet. Er muss aus einem Guss verfasst, geformt sein. Konzentration und Anspannung sind ihr ins Gesicht geschrieben. Weder Tintentod noch Erase-Taste hat sie zur Verfügung. Ein Mal kurz in den Garten treten und Luft holen, mehr ist nicht drinnen. Allzu leicht könnte der Rhythmus des Buchstabentanzes verloren gehen. „Am Ende muss ich die Buchstaben auch farblich in Einklang bringen.“
Die Schöpfungsgeschichte der Nobelpreis-Urkunden liest sich bis zum allerletzten Punkt wie ein spannender Roman. Dann endlich der Moment der Befreiung, vor Abgabeschluss, wenn sie die Original-Urkunden auf dem Postweg weiß. Ihre ganze Liebe, all ihr Wissen über das Leben ist den Arbeiten zu entnehmen. Es wäre an der Zeit, dass man in Österreich von der Ausnahmekünstlerin mehr Notiz nimmt.
Federführend
Biografie
Annika Rücker, in Stockholm geboren, hat an der Akademie für angewandte Kunst in Wien studiert, dann im Atelier ihres Vaters und bei anerkannten Kalligrafen gelernt. Schon seit 1988 gestaltet sie die Nobelpreisdiplome.
Zehn Persönlichkeiten, die mit dem Schreiben zu tun haben, im neuen Buch von KURIER- Redakteur Uwe Mauch: „Federführend – über die Magie der Handschrift“, Edition Gusswerk, 88 Seiten, 14,90 Euro.