Autobiografie einer Zeitzeugin
Von Birgit Braunrath
Sie ist eine der Frauen, die ich bewundere“, sagt Karl Schwarzenberg über sie. Barbara Coudenhove-Kalergi, deren Gesicht für Österreicher jenseits der 40 untrennbar mit dem Aufstieg der Solidarność in Polen, dem Fall der Berliner Mauer und der „sanften Revolution“ in Prag verbunden ist, ist zu bescheiden, um Bewunderung und Auszeichnungen zu zelebrieren. Dennoch hat die 81-jährige Journalistin jetzt ihr eigenes Leben zum Thema gemacht. Ihre Begründung: „Weil mit meiner Generation vieles endgültig zu Ende geht. Ich gehöre zur letzten Generation, die erlebt hat, wie Böhmen, Tschechen und Deutsche zusammenleben, ich habe den letzten Abglanz des jüdischen Wiener Bildungsbürgertums erlebt, ich hab die Nazi-Zeit erlebt.“ Und sie erzählt die spannenden Lebens- und Liebesgeschichten ihrer weit verzweiten Verwandtschaft. „Jede Familie ist ein Roman“, lacht sie
KURIER:Sie berichten lieber über andere, musste man Sie zur Autobiografie überreden?
Barbara Coudenhove-Kalergi: Ich wollte nie über mich schreiben, aber wenn man alt wird, ist man eine Zeitzeugin, ob man will oder nicht. Die Zeit meiner Jugend ist für meine Nichten und Neffen ungefähr so wie die Steinzeit, und für deren Kinder ist es das Paläozoikum.
Sie kamen 1956 als Reporterin in die Lokalredaktion der „Presse“. Frauen waren zu der Zeit höchstens für die Tierecke oder die Kochrezepte zuständig. Wie kamen Sie in die damalige Männerdomäne Journalismus?
Ich bin eher hineingestolpert, denn ich gehöre zu einer Generation, in der so etwas wie Karriereplanung – speziell unter Frauen – völlig unbekannt war. Es hat immer eins das andere ergeben.
So auch bei Ihrer TV-Premiere ...
Zum Fernsehen kam ich während der Ereignisse in Polen 1980. Ich war dort fürs ORF-Radio, eines Tages kam ein Fax: „Wir brauchen ein Fernsehgespräch.“ Keine Rede von Casting, Coaching oder Schminken. Ich bin zum Ort des Geschehens gefahren und habe das, was ich im Radio erzählt habe, in die Kamera erzählt. Heute würde man sich die Haare raufen.
Sie sind Renner- und Concordia-Preis-Trägerin, Sie waren „Frau des Jahres“, im ORF wurden Autogrammkarten für Sie produziert. Was bedeuten Ihnen das?
Man freut sich schon, aber das ist nichts, was mich besonders begeistert. Mir ist so etwas immer auch ein bisschen peinlich.
Im Fragebogen der KURIER-Freizeit haben Sie als „größten Fehler“ angegeben: „Mangel an Selbstvertrauen.“ Im Ernst?
Natürlich, ich bin ein Kind meiner Zeit, und ich bin mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen. Ich war „die Kleine“, die die kleinste Rolle gespielt hat. Später habe ich oft jüngere Kolleginnen beneidet, die mit großem Selbstbewusstsein in Aufgaben hineingegangen sind, während ich gedacht habe: „Um Gottes Willen, das schaff ich nie!“
Der schlimmste Tag Ihrer Karriere war der Fall der Berliner Mauer. Sie saßen verzweifelt und weinend am Randstein ...
Es war schrecklich, mein Tiefpunkt. Ich war mit meinem Team im Auto unterwegs, als im Radio die berühmte Pressekonferenz lief, bei der das Politbüromitglied Schabowski verlesen hat, dass die Grenzen übertretbar sind. Ich rief: „Moment, das würde ja heißen, dass die Mauer offen ist!“ Der Kameramann und der Tonmeister haben mich ausgelacht. Wir sind trotzdem hingefahren und waren das erste Fernsehteam. Die Grenzposten standen ratlos herum, die ersten Berliner marschierten wie im Traum über die scheinbar unüberwindliche Grenze. Wir haben in dieser ersten Stunde gedreht. Und all die Bilder, an die man sic heute erinnert, die tanzenden, jubelnden Menschen, das war erst viel später. Wir haben sofort eine Leitung bestellt, unser Material nach Wien geschickt und darauf gewartet, dass die Wiener anrufen und uns loben. Vergeblich. Unsere Bilder sind nie in Wien angekommen. Ich hab gedacht: „Jetzt geb ich mir die Kugel.“ Wir hatten fabelhaftes Material, aber alles war im Eimer. Heute noch seh ich mich heulend am Randstein sitzen.
Und was der Höhepunkt Ihrer Karriere, das Gegenstück zum Randstein in Berlin?
Die „sanfte Revolution“ in Prag, ebenfalls 1989. In den Tagen, als sich die Massen am Wenzelsplatz versammelten, gaben Vaclav Havel und seine Mitstreiter jeden Abend eine Pressekonferenz in einem Theater. Ich hörte im Radio die Meldung: „Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ist zurückgetreten.“ Dann lief ich zur Pressekonferenz, aber die Männer auf der Bühne wussten noch nichts. Ich wollte aufstehen und sagen: „Kinder, ihr habt gewonnen, ihr seid die Herren des Landes!“, hab’ mich aber nicht getraut. Plötzlich kam ein Mädchen hereingestürzt und verkündete die Nachricht. Das ganze Theater war baff. Totenstille. Irgendwann ist Vaclav Havel aufgestanden und hat gesagt: „Es lebe die freie Tschechoslowakei.“ Dann erst ist der Jubel losgebrochen, jemand hat Champagner gebracht, und der Teufel war los. So einen Moment erlebt man nicht alle Tage.
Würden Sie heute wieder Journalistin werden?
Ja. Obwohl ich mit meiner Ausbildung heute nicht einmal beim Bezirksblatt landen könnte.
Sie sind zu einem Viertel Japanerin. Ihre Großmutter väterlicherseits kam aus Tokio. Und Ihre Autobiografie heißt „Zuhause ist überall“. Fühlen Sie sich auch in Japan zuhause?
Ich war zwei Mal dort und kann mit den Japanern überhaupt nichts anfangen. Ihr Formalismus mag andere faszinieren, mich nicht.
Sie erzählen im Buch, dass Ihre Großmutter berühmt wurde.
Sie ist in Japan so eine Art Sisi-Gestalt. Es gibt Filme, Comics, Bücher und Theaterstücke über sie. Für viele junge Japanerinnen gilt sie als feministische Ikone, weil sie quasi als erste Japanerin im 19. Jahrhundert nach Europa gegangen ist. In Wahrheit hatte sie es nicht leicht. Ihr Mann ist jung gestorben, sie stand mit sieben kleinen Kindern da und ist hier nie ganz heimisch geworden. Sie wollte in Europa alles richtig machen, aber auch eine gute Japanerin sein – das hatte ihr die Kaiserin vor der Abreise aufgetragen. Eigentlich eine nicht gelungene Integration.
Können Sie das Nachvollziehen, dieses Zerrissen-Sein?
Ich habe als 13-Jährige Flucht und Vertreibung erlebt. Wir sind zwar nur von Böhmen nach Österreich gekommen, aber mir fiel es trotzdem sehr schwer, mich zu integrieren. Deshalb kann ich nachvollziehen, wie es den Zuwanderern und Flüchtlingen geht, die von weit her zu uns kommen und von denen man verlangt, dass sie von heute auf morgen gute Österreicher werden.
Ist das der Grund, warum Sie Deutschunterricht für Asylwerberinnen geben?
Es ist mit ein Grund. Das Thema Identität fasziniert mich nach wie vor, man kann über kulturelle Unterschiede nicht einfach hinweggehen.
Waren Sie schon bei den Asylwerbern in der Votivkirche?
Einige Leute haben gesagt, ich solle hinkommen. Aber ich finde es unpassend, Elends- oder Hungerstreiktourismus zu betreiben.
Verstehen Sie, was diese Menschen antreibt?
Ich verstehe es nur allzu gut. Ich hatte eine Schülerin, die mit ihrer Familie aus Georgien gekommen ist. Sie waren dort eingesperrt, ihr Mann hat unter üblen Umständen ein Auge verloren. Die warten seit zehn Jahren auf den Asylbescheid. Sie sprechen gut Deutsch, die Kinder sind die Besten in der Schule, aber die Familie lebt in der ständigen Angst, abgeschoben zu werden. Das ist unmenschlich. Als meine Familie völlig mittellos hier angekommen ist, haben wir keine besondere staatliche Hilfe bekommen, aber man hat uns auch nicht daran gehindert, uns selbst zu helfen. Und genau das ist es, was diese Leute wollen: keine Almosen, sondern durch ihrer Hände Arbeit ein bisschen Sicherheit für sich uns ihre Kinder gewinnen. Dass man sie jahrelang im Ungewissen lässt und zur Untätigkeit verurteilt, macht die Menschen kaputt.
Wo würden Sie sich heute politisch einordnen?
Ich sehe mich bis heute links von der Mitte zu Hause, bin aber, wie so viele, ein bisschen heimatlos.
Wir waren gar nicht so weit voneinander entfernt, und wir waren sehr glücklich. Mein Mann ist als Junger zu den Kommunisten gekommen, auch im Kampf gegen die Nazis, und er war in Frankreich in der Resistance. Ich war natürlich von der Bewegung der 60er-Jahre erfasst. Angefangen von Jean-Paul Sartre waren viele im Westen auf der politischen Linken zu Hause. Wir haben das Zusammenfinden von mehr Demokratie im Osten und mehr sozialer Gerechtigkeit im Westen herbeigesehnt.
Haben Sie nach dem Tod Ihres Mannes je daran gedacht, wieder zu heiraten?
Eigentlich nicht. Ich habe meinen Mann sehr geliebt, und er geht mir immer noch ab – aber als Person und nicht im Sinne von: Es muss einen Mann im Haus geben. Ich kann sehr gut alleine leben.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken: War die Flucht aus Prag im Mai 1945 Ihr schlimmstes Erlebnis? Sie mussten Ihr Zuhause verlassen, ohne etwas mitzunehmen, und dann zwei Tage und eine Nacht, 90 Kilometer, ins Flüchtlingslager gehen.
Es war tatsächlich ein Gewaltmarsch, ich bin die Strecke später oft mit dem Auto gefahren. Danach waren wir 14 Tage im Flüchtlingslager, dann ging’s weiter, wieder ein langer Fußmarsch, von Böhmen in den Lungau. Aber, so komisch klingt, ich habe das nicht als so traumatisch empfunden. Für mich hatte es sogar etwas Gutes. Wir Kinder wurden daheim vom Kinderfräulein erzogen, und plötzlich waren die Eltern den ganzen Tag bei uns. Ich fand das schön.
Mir kommt vor, dass Dinge, die, objektiv betrachtet, Kleinigkeiten sind, einem als Kind viel mehr weh tun können als objektiv schlimme Situationen wie Vertreibung, Hunger und Armut.
Etwa die großen Brüder, die Sie auf perfide Art gehänselt haben, wie Sie im Buch erzählen?
Ja, zum Beispiel.
Haben die Brüder das je bereut?
Ja, wir waren später ein Herz und eine Seele. An meinem 70. Geburtstag haben sie sich feierlich entschuldigt. „Ein bisschen spät fällt’s euch ein“, hab ich geantwortet.
Vor 20 Jahren haben Sie gesagt: „Vom Älterwerden wird man nicht gescheiter.“ Würden Sie das heute revidieren?
Ich glaube schon. Es wäre schlimm, wenn man mit 80 noch so dumm ist wie mit 18. Vielleicht wird man nicht gescheiter, aber man lernt dazu. Ob man will oder nicht.
Geboren 1932 in Prag, Vater Gerold Graf Coudenhove-Kalergi, Mutter eine Palffy. 1945 Vertreibung und Flucht in den Lungau. Kommt 1956 als Studienabbrecherin zur „Presse“, dann zum KURIER, ORF-Radio und Fernsehen. Sie hat keine Kinder, seit ihr Mann 1979 starb, lebt sie allein.
Zum Buch
Am Montag erscheint „Zuhause ist überall“ (Zsolnay) mit Erinnerungen an große Vorfahren; Schilderungen einer dramatischen Flucht, die sie ein Leben lang sensibel für Schicksale von Flüchtlingen machte; Berichten über Einsätze in Polen, Berlin, Prag, wo sie historische Momente erlebte.