Sport/Wintersport

Hirscher: "Ich muss nicht mehr, ich darf"

Es gibt einen Tag im Jahr, an dem sich der beste Skifahrer der Welt auf den Brettl’n regelmäßig wie ein blutiger Anfänger vorkommt und von der berühmten Pistengaudi keine Rede sein kann. "Der erste Skitag nach dem Sommer fühlt sich immer beschissen an", gesteht Marcel Hirscher. "Der Schnee ist alt und kaputt. Die Füße tun weh, die Zehen tun weh, und nach einer Fahrt brennen dir schon die Oberschenkel – und zwar ganz egal, wie gut du im Sommer trainiert hast. Das ist nicht schön", berichtet der fünffache Gesamt-Weltcupsieger.

"Das Problem ist: Du hast das Gefühl vom letzten Schneetag im Frühjahr gespeichert – und das ist meistens der beste des Jahres. Und der erste Skitag ist mit Sicherheit immer der schlechteste."

Das schlechte Gefühl, es ist ein treuer Begleiter und alter Bekannter von Marcel Hirscher. In den letzten Tagen und Wochen vor dem klassischen Weltcupauftakt in Sölden wird der Superstar traditionell von Selbstzweifeln geplagt. Wenn etwa im Training die Schwünge nicht so sitzen wie gewohnt oder Hirscher in den Testläufen einmal nicht die Bestzeit aufstellt. In früheren Jahren konnte der junge Hirscher dann richtig unrund werden und sein Umfeld narrisch machen, wissen seine Wegbegleiter zu berichten. "Inzwischen ist er viel gelassener und sieht alles lockerer", erklärt ÖSV-Herren-Cheftrainer Andreas Puelacher.

Detailverliebt

Die neue innere Ruhe bedeutet freilich keineswegs, dass es der beste Skifahrer der Gegenwart jetzt gemächlicher angehen lässt. Vielmehr hat der 27-Jährige vor dem Weltcup-Auftakt in einer Woche in Sölden wieder mit einer Leidenschaft und Detailverliebtheit an seiner perfekten Materialabstimmung getüftelt, dass Atomic-Boss Wolfgang Mayrhofer nur so ins Schwärmen gerät. "Er ist super, weil er das Limit total pusht. Was das Material betrifft, ist er ähnlich verrückt wie seinerzeit Hermann Maier. Marcel steht oft jeden zweiten Tag bei uns in der Firma und gibt Feedback. Und wir bauen ihm dann in 48 Stunden einen neuen Ski", berichtet Mayrhofer.

Megadankbar

Auf dem Rettenbachferner oberhalb von Sölden, wo Hirscher 2014 gewinnen konnte, wird sich wieder alles um den Salzburger drehen. Was beschäftigt den 27-Jährigen vor dem WM-Winter? Welche Ziele hat er sich gesetzt? Marcel Hirscher über ...

... das anstrengende Leben als Superstar: "Natürlich, die letzten fünf Jahre waren super erfolgreich und ich bin dafür auch megadankbar. Aber ich merke schon, dass es auch extrem viel Kraft gekostet hat. Gewisse Dinge strengen mich heute auch mehr an als früher. Man verbraucht eben viel Energie in solchen Saisonen, das war auch der Grund, warum ich heuer im Sommer keine Interviews gegeben habe. Das macht’s ein bisschen einfacher, wenn man weniger Verpflichtungen hat. Es war einfach einmal fein, Abstand zu gewinnen und ganz normal zu leben, wie es einem so passt. Mein Umfeld behauptet, ich wäre so entspannt und gelassen wie nie. Ich selbst merke es auch. Es wurde eh Zeit, dass ich ruhiger werde."

... die Vorbereitung auf die Saison: "Ich komm’ diesen Sommer auf zwanzig Schneetage, das ist mehr als in den letzten Jahren. Aber erst jetzt fängt’s an, richtig Spaß zu machen. Wenn’s am Gletscher minus 13 Grad hat und frischen Pulver. Alles andere davor, wenn man sogar mit kurzer Hose am Gletscher sein könnte, weil’s so warm ist, das ist nur Business."

... einen sechsten Gesamt-Weltcupsieg in Serie: "Ich wäre wahrscheinlich enttäuscht, wenn man mich nicht danach fragen würde. Aber wir alle wissen, dass es kein Spaziergang ist und keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Die Statistik spricht definitiv gegen mich. Mein Fokus lag zu Saisonbeginn aber noch nie auf dem Gesamtweltcup. Das muss sich entwickeln. Wenn ich am Anfang schlecht starte, dann könnte es sein, dass ich mich ganz auf die WM konzentriere. "

... seine aktuelle Form: "Mindestens zwanzig Prozent fehlen mir derzeit noch. Die Vergleiche mit den anderen sind, ehrlich gesagt, noch ziemlich bescheiden. Das beunruhigt mich aber nicht, weil ich mit meiner Leistung irgendwie schon abgeschlossen habe. Alles was jetzt dazukommt, ist on top. Mein sportlicher Sack an Muss ist völlig zu, jetzt darf und kann ich noch. Ich muss aber nicht mehr, das ist ein großer Unterschied. Ich muss nicht mehr beweisen, dass ich Skifahren kann – das habe ich mir selbst schon bewiesen und vielen anderen auch. Das ist ein super Zugang, das macht mich auch relativ entspannt."

... den Saisonauftakt in Sölden: "Auch wenn es vielleicht nicht den Anschein macht: Was meine Leistung betrifft, da bin ich supernervös. So geht’s mir jedes Jahr vor dem Saisonstart. Im Grunde genommen kommt Sölden immer zu früh. Ich kann mich im Training nicht so überwinden, dass ich an meine Grenzen gehe. Ich muss eine Startnummer anhaben, es muss um was gehen, erst dann wird sich herausstellen, ob ich schnell bin."