Sport/Wintersport

Kraft & Hayböck: Das fliegende Klassenzimmer

Es passiert nicht allzu oft, dass Anton Innauer einmal um eine passende Antwort verlegen ist. Als kritischer Schanzengeist findet der Doyen des Skispringens gewöhnlich für alles eine rationale und plausible Erklärung. Aber das, was Stefan Kraft da am Montag in Oberstdorf abgeliefert hat, konnte dann selbst der österreichische Querdenker nur mehr mit einem Kopfschütteln quittieren. "Das war ein unerklärlich guter Sprung", sagte Anton Innauer über den Auftritt des neuen Tourneeleaders im ersten Durchgang von Oberstdorf.

Tatsächlich schien Stefan Kraft bei diesem Sprung allen Gesetzen der Natur und der Schwerkraft zu trotzen und über allen Wetter-Dingen zu schweben. Der Salzburger musste bei miserabelsten Verhältnissen über die Schanze und er hatte von allen Tourneefavoriten auch mit Abstand den stärksten Rückenwind – Kraft erhielt deshalb 12,7 Windpunkte gutgeschrieben, sein Teamkollege Michael Hayböck lediglich 1,7 – doch das hinderte den 21-Jährigen nicht daran, mit 136,5 Metern locker lässig alle Konkurrenten zu überflügeln.

Verblüffend einfach. Einfach verblüffend.

Alle Jahre wieder

Wieder einmal ist also bei der Vierschanzentournee ein neues Siegergesicht aufgetaucht. Und wieder einmal ist es ein Springer aus dem schier unerschöpflichen Fundus des österreichischen Skiverbandes, der seit sechs Jahren noch jedes Mal den Gesamtsieger gestellt hat. Die Erfolgsstory von Stefan Kraft erinnert unweigerlich an Wolfgang Loitzl, der ebenfalls bei der Tournee (2008/’09) seinen ersten Weltcupsieg feiern durfte und den Klassiker später auch gewann. Und natürlich werden bei Krafts furiosem Start auch Erinnerungen an Thomas Diethart wach, der im vergangenen Winter bei der Tournee erst zu seinem ersten Weltcupsieg und in Bischofshofen dann zum Triumph in der Gesamtwertung geflogen war. "Es ist genial, was da passiert ist", jubelte Kraft. "Ein Traum ist für mich in Erfüllung gegangen."

Und was diesem Premierensieg für den Luftikus aus dem Pongau eine besondere Note gibt: Kraft stand gemeinsam mit Michael Hayböck auf dem Siegespodest, Seite an Seite mit seinem Zimmerkollegen und dicken Freund. Der Oberösterreicher, dessen erster Sieg ebenfalls nur eine Frage der Zeit ist, durfte sich nach dem zweiten Platz von Oberstdorf auch das Trikot des Weltcupgesamtführenden überziehen. "Wir hatten das Glück des Tüchtigen."

Ein Fall für drei

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Stefan Kraft und Michael Hayböck teilen sich nicht nur das Zimmer, sie haben auch eine ähnliche Geschichte hinter sich. Beide wurden lange Zeit unterschätzt, beide mussten sich ihren Status im ÖSV-Springerteam erst einmal erarbeiten. Der ehemalige Juniorenweltmeister Hayböck konnte erst im x-ten Anlauf im Vorjahr im Weltcup richtig Fuß fassen, Kraft wiederum musste zuletzt bei den Winterspielen zuschauen. "Die beiden befruchten sich gegenseitig", erklärt Patrick Murnig (Jump & Reach), der seit Jahren das Duo als persönlicher Coach und Mentor auf dem Werdegang begleitet. "Die zwei sind auf alles vorbereitet, die werden demütig und auf dem Boden bleiben."

Abheben werden und wollen Kraft und Hayböck nur auf der Schanze. Und da im Idealfall im Formationsflug. "Wir werden uns gegenseitig mitziehen", so Hayböck, "wir können gemeinsam den anderen das Leben schwer machen."

Aber welche anderen eigentlich? Der Favoritenkreis ist nach dem ersten Springen schon stark eingeengt. Nur der Slowene Peter Prevc (acht Punkte Rückstand) liegt noch auf Tuchfühlung, die übrigen Sieganwärter haben bereits einen Respektabstand. Leicht möglich, dass die Tournee schon jetzt nur mehr ein Fall für drei ist. Die Erfahrung lehrt: Wer in Oberstdorf nicht vorne landet, der hat auch nicht das Zeug zum Gesamtsieger. Bei den letzten 15 Tourneen war 13-mal der spätere Gewinner bereits auf dem Siegerfoto von Oberstdorf zu sehen.

Gregor Schlierenzauer mag ein bekennender Berufsoptimist sein, ein Fantast ist er deshalb aber noch lange nicht. Nach seinem Absturz im Finaldurchgang von Oberstdorf vom sechsten auf den 17. Rang wusste der zweifache Tourneesieger sofort, was es geschlagen hat. „Die Tournee ist Geschichte“, erklärte Schlierenzauer, „so viel kann ich rechnen.“

44 Punkte Rückstand hat der 24-Jährige in Oberstdorf bereits aufgerissen und Schlierenzauer ist beileibe nicht der einzige Star und Mitfavorit, der sich vorzeitig aus dem Rennen um den Gesamtsieg verabschiedet hat. Der Stubaier befindet sich in prominenter Gesellschaft.

Simon Ammann? Gestürzt und frustriert. Die hoch gehandelten Herausforderer aus Deutschland? Von der Konkurrenz gedemütigt und von den heimischen Medien gepflanzt. Die ambitionierten norwegischen Adler? Ebenfalls stark gerupft. Der dreifache Saisonsieger Roman Koudelka aus Tschechien? Auch schon 26 Punkte hinten.

Vor allem die Deutschen haben eine unsanfte Landung auf dem Boden der Realität erlebt. Mit Severin Freund und Richard Freitag stellten sie zwei Saisonsieger und Tourneeanwärter, beide Hoffnungsträger strauchelten auf der Hausschanze in Oberstdorf. „Das war eine Ohrfeige“, gab auch Werner Schuster, der österreichische Chefcoach der deutschen Springer unumwunden zu, „wir müssen das lösen, damit wir kein Tournee-Trauma kriegen.“

Denn inzwischen ist es beinahe schon ein Klassiker, dass die DSV-Springer beim Schanzen-Klassiker einen Absturz fabrizieren. Seit 48 Tourneespringen warten die Nachbarn auf einen Podestplatz, der letzte Gesamtsieg ist auch schon längst verjährt (Sven Hannawald 2002). Zur Enttäuschung kommt der Spott in den Medien. Die Bild-Zeitung schreibt schon von den deutschen „Schneehühnern.“ „Wir stehen bei der Tournee ziemlich dämlich da, und das schon seit Jahren“, räumte Severin Freund ein.

Nicht viel anders ergeht es Simon Ammann, der sich vor dem Publikum in Oberstdorf unfreiwillig verneigte und einen Bauchfleck fabrizierte. Der Schweizer Routinier wird mit der Tournee keine Freundschaft mehr schließen. „Ich brauche Zeit, um das zu verarbeiten.“