Höhenflüge mit Autopilot
Von Christoph Geiler
Wer wissen möchte, wie eine richtige Kampfansage an die Konkurrenz klingt, der muss nur einmal bei Michael Hayböck etwas genauer hinhören. Er wolle "bei sich bleiben" hatte der Oberösterreicher beim Tournee-Auftakt in Oberstdorf unmissverständlich verkündet, und eigentlich müssten den anderen Adlern jetzt sofort die Federn zu Berge stehen, wenn sie diesen Leitsatz vernehmen.
Denn die Erfahrung lehrt: Wenn ein Skispringer wirklich bei sich bleibt, dann bleibt er bei der Vierschanzentournee meist auch nicht auf der Strecke.
Das "Bei-sich-Bleiben" ist in den vergangenen Jahren zu einem geflügelten Wort geworden zwischen Oberstdorf und Bischofshofen. Spätere Sieger haben sich auf ihrem Erfolgsweg gerne dieses Mottos bedient, das sich vielleicht simpel und unspektakulär anhören mag, tatsächlich aber nur von den wenigsten Skispringern auch umgesetzt werden konnte.
Sieben Zwetschken
"Wenn du es schaffst, bei dir zu bleiben und alles rund um dich auszublenden und loszulassen, dann hast du einen idealen Zustand erreicht, um Höchstleistungen zu erbringen", erklärt der Sportpsychologe Christian Uhl, der unter dem neuen Trainer Heinz Kuttin wieder das Springerteam unterstützt.
Thomas Morgenstern ist bei sich geblieben, als er 2011 die Tournee gewann; andere hatten aber auch einfach nur "alle sieben Zwetschken beisammen" (©Andreas Kofler, Gesamtsieger 2010), sie zogen "ihr Ding durch" (© Gregor Schlierenzauer, Gesamtsieger 2012,2013) oder sie schalteten "einfach den Kopf aus" (© Thomas Diethart, Tourneesieger 2014).
Alle zusammen schwebten sie während der Tournee in anderen Sphären und ließen sich weder durch Wind und Wetter, noch durch den Druck der Öffentlichkeit oder die Konkurrenz aus ihrer Flugbahn werfen.
Locker & Lässig
Als Michael Hayböck und Stefan Kraft am Tag nach dem Doppelsieg von Oberstdorf im neuen ÖSV-Teamquartier in Mösern (For-Friends-Hotel) saßen, der eine einen Grinser im Gesicht, der andere den Schalk im Nacken, da erinnerten die beiden Zimmerkollegen unweigerlich an jene fünf österreichischen Skispringer, die zuletzt vor ihnen die Tournee gewonnen haben. Diese Lockerheit, die der junge Mann im Gelben Trikot (Hayböck) und der Kollege im Blauen Trikot (Kraft) da ausstrahlten; dieser Spaß, mit dem sie im Moment den Alltag bewältigen; und dieses Selbstverständnis, das sie in dieser Saison auf der Schanze präsentieren – alles schon einmal da gewesen, alles in dieser Form schon einmal gesehen. Das ganze Auftreten von Hayböck und Kraft macht Hoffnung, dass die österreichische Erfolgsstory bei der Tournee (sechs Siege in Serie) um ein weiteres Kapitel verlängert wird.
"Ich habe das Gefühl, dass ich im Moment nicht viel falsch machen kann", betont Tourneeleader Kraft vor dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen. "Ich werde einfach so weitermachen, weil auch gar kein Grund besteht, etwas anders zu machen", sagt der Weltcupführende Hayböck.
Flow-Zirkus
Das hört sich schon verdächtig nach dem berühmten "Flow" an. Jenem wundersamen Idealzustand, den jeder Skispringer anstrebt, der aber so schwer zu erreichen ist. "Wir sprechen vom Flow, wenn bei einem Sportler das Handeln und Denken übereinstimmt", erklärt Sportpsychologe Christian Uhl, "übersetzt: wenn der Skispringer in der Lage ist, alles dem Autopiloten zu überlassen."
Und der Rest? Ist Eigendynamik, der Lauf der Dinge. Wobei nicht einmal die Springer selbst ihren Höhenflug oft nachvollziehen können. Am Beispiel von Thomas Diethart, dem es ein Rätsel war, wie er im Vorjahr die Tournee gewinnen konnte, der sich aber genauso wundert, warum er in dieser Saison nur mehr hinterherspringt. Oder Wolfgang Loitzl, der seine größten Einzelerfolge (Tournee, WM-Gold, vier Weltcupsiege) 2009 alle binnen sechs Wochen feierte. "Ich kann’s nicht erklären", erinnert sich Loitzl, "ich war damals wie in Trance."
Doch jeder Flow hat ein Verfallsdatum, noch jeder Höhenflieger ist früher oder später wieder auf dem Boden der Realität gelandet. Was dann am besten hilft, um wieder nach oben zu kommen?
Bei sich zu bleiben.