Sport

Sekunden für die Ewigkeit

Riesenbildschirme waren die große Errungenschaft der Leichtathletik-WM 1991 in Tokio. Doch Superathleten waren darauf kaum zu sehen, sondern russische Panzer. Der beängstigende und schließlich gewaltlos niedergeschlagene Putsch der Altkommunisten in Moskau überschattete das denkwürdige Sportereignis. Zwei Momente, insgesamt nur ein paar Sekunden, bleiben trotzdem unvergesslich.

Am 25. August 1991 liefen sechs von acht Sprintern im Finale über 100 Meter unter zehn Sekunden. Das ist bis heute unerreicht. Der Leichtathlet des Jahrhunderts, Carl Lewis, gewann mit dem Weltrekord von 9,86 Sekunden. Sein Lebensmensch vom berühmten Santa Monica Athletic Club, Leroy Burrell, blieb mit 9,88 ebenfalls unter seinem eigenen Weltrekord von 9,90.

Vertuschung

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Fünf Tage später stand Carl der Große plötzlich als Verlierer da, weil ihm Landsmann Mike Powell die Show stahl: Zwar übertraf zuerst Lewis den 23 Jahre alten Weitsprung-Weltrekord (8,90 m) des legendären Bob Beamon um einen Zentimeter, allerdings mit zu starkem Rückenwind. Wenige Minuten später sprang Powell ohne Rückenwind 8,95. Dieser Rekord ist noch heute aktuell.

Carl Lewis war von 1992 bis 1995 KURIER-Kolumnist. 2003 wurde bekannt, dass dem IOC vom US-Verband eine positive Dopingprobe von Lewis vorenthalten worden war. Eine aus dem Jahr 1988, in dem sein Feind, der Kanadier Ben Johnson, bei Olympia in Seoul nach Sieg und Weltrekord als Dopingsünder des Jahrhunderts entlarvt worden war.

1993 deckten mein Kollege Martin Sörös und ich den Dopingskandal um die medaillenverdächtige österreichische Sprint-Staffel auf. Andreas Bergers Landesrekord von 10,15 (1988) steht immer noch. Abgesehen von der moralischen Schuld bestand Bergers Fehler darin, ein billigeres und leichter nachweisbares Mittel als die reichen Stars verwendet zu haben (Methan-Dienon).

Trotzdem gerieten in der Folge praktisch alle Superstars der goldenen Ära ins schiefe Licht. Kapitale Doping-Vergehen ließen selbst die unerschütterlichen Fans an ihren Idolen zweifeln. Zusätzliche Gerüchte wurden durch den Tod der schnellsten Frau der Welt, Florence Griffith-Joyner, genährt. Ihr 100-m-Weltrekord von 10,49 (Seoul 1988) könnte einer für die Ewigkeit sein. Camelita Jeter kam ihr vor zwei Jahren mit 10,64 noch am nächsten.

Griffith-Joyner starb 1998 mit 38. Nachdem die hysterische mediale Analyse Doping-Spätfolgen als unumstrittene Todesursache ausgemacht hatten, verblüffte der zuständige Gerichtsmediziner die Sportwelt: Flo-Jo sei an einem angeborenen Gehirnschaden gestorben. "Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf Doping", musste der medizinische Direktor des IOC öffentlich erklären.

Carl Lewis kandidiert jetzt für den Senat in New Jersey. Sündenbock Ben Johnson beschuldigte Lewis, mit seinem Doping-Vergehen 1988 etwas zu tun gehabt zu haben: Ein mit Lewis befreundeter Fußballspieler soll ihm damals eine Substanz ins Bier gemischt haben, was medizinischer Unfug ist.

Inzwischen hält der Jamaikaner Usain Bolt mit unglaublichen 9,58 Sekunden den 100-Meter-Weltrekord. Sein Landsmann und Staffel-Kollege Steve Mullings wurde soeben zum zweiten Mal positiv getestet. Ihm droht die lebenslange Sperre. Bolt wurde vor zwei Jahren von einem Doping-Dealer aus Mexiko schwer belastet, dem keiner glaubte.

Scheinheiligkeit

99 Jahre, nachdem Donald Lippincott 1912 mit handgestoppten 10,6 Sekunden den ersten registrierten 100-m-Weltrekord aufgestellt hatte, ist ein ganz anderer Wettlauf im Gang: einer zwischen Betrug und Scheinheiligkeit. Denn die Jagd nach Dopingsündern ist längst zu einem ebenso schmutzigen wie einträglichen Geschäft geworden: Funktionäre, Laboranten, Analytiker und Ärzte leben davon, verschlingen Millionen, die für die Sportförderung bereitstehen sollten, und müssen regelmäßig eine bestimmte Sünder-Quote als Arbeitsnachweis liefern.

Die Reichen werden sich trotzdem fast immer sichere Methoden und Mittel leisten können. Und Anwälte, die sie notfalls von jeder Schuld reinwaschen. Die Armen werden das bleiben, was sie sind: arme Schlucker.

Wenn es eben so ist, dass internationale Spitzenleistungen ohne verbotene Praktiken nicht möglich sind, gibt es keine Flucht aus diesem Teufelskreis. Weder durch einen neun Meter weiten Sprung, noch durch einen 100-Meter-Sprint, der nur neun Sekunden dauert.

Magic Moments: Lewis & Powell 1991

Jahrhundertlauf 1. Carl Lewis 9,86 (WR), 2. Leroy Burrell 9,88, 3. Dennis Mitchell (alle USA) 9,91, 4. Linford Christie (Gb) 9,92 (ER), 5. Frankie Fredericks (Nam) 9,95 (Afrika-Rekord), 6. Raymond Steward (Jam) 9,96 (Mittelamerika-Rekord).

Jahrhundertsprung Erst Carl Lewis 8,91 m (windbegünstigt), dann Mike Powell 8,95 (regulär).