Sport

Olympia begeistert die Londoner

Bin über 1,90 Meter groß und hab mich in der Stoßzeit in die Piccadilly Line quetscht, schaute zwangsläufig einer Dame ins Dekolleté, weil die Underground-Waggons nur 1,80 Meter hoch sind. Entschuldigte mich demütig, dass ich mangels Kopffreiheit die Nase in fremde Angelegenheiten stecke, erntete ein mildes Lächeln und – wurde sofort gefragt, woher ich komme, ob mir London gefällt, ob ich Usain Bolt gesehen habe, der sei fantastisch, wie auch die vielen, vielen Briten, die schon Gold gewonnen haben.

Keiner hat auf der kurzen Fahrt Richtung Hyde Park Luft zum Atmen, aber ausreichend Luft, um über Olympia zu reden. Das tun alle, einfach alle.

Sportbegeisterung pur. Ein Drittel aller Engländer (16 Millionen) hat Bolts Goldsprint im Fernsehen verfolgt, doch angeblich mehr als die Hälfte aller Londoner. Das wären immerhin fast sieben Millionen Menschen, denn 13,3 Millionen wohnen hier, wenn man die Außenbezirke mit einbezieht. Es fühlt sich an als wären sie alle im Hyde Park – Hunderttausende werden es wohl tatsächlich gewesen sein. Eine Metropole macht Urlaub, tatsächlich sind es um vierzig Prozent mehr als normalerweise im Sommer. Einen großen Teil davon verbringen sie in vollgepfropften U-Bahn-Schächten. Freiwillig.

Heiligtum

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Der Hyde Park, das ist ihr Prater, nein, ihr Heiligtum, das mit eineinhalb Quadratkilometern größer ist als das Fürstentum Monaco. Dort schwimmen, reiten, laufen die Briten. Auch am Tag des Olympischen Triathlons.

Vor dem Serpentine Lake steht eine Tafel mit der Aufschrift "NO BATHING" – das ist bemerkenswert, weil dort die Triathleten bei kühlem Wetter hineinspringen. Und weil dort an den seltenen heißen Tagen auch die Londoner in Scharen baden.

"Das Verbot ist nur wegen der Anwälte", verrät mir ein Polizist.


Für den Durchfall, den man sich durch den versehentlichen Verzehr von Entendreck einfangen könne, wolle der Bürgermeister eben nicht haften. Angeblich soll vor Jahren ein Schwimmer daran gestorben sein. "Napoleons Rache" nennt man die Krankheit. Einer der Eingänge in den Hyde Park führt nämlich durch Wellington Arch, ein Triumphbogen, der zu Ehren des Herzogs von Wellington errichtet wurde. Und der hatte Napoleon bei Waterloo vernichtend geschlagen.

Massen-Picknick

In der Wiese sitzt eine irische Familie beim Frühstücks-Picknick – auch das ist in London ein Sport – "Oh Mary, this London is a wonderful town..." singen die vier und klingen dabei wie die Dubliners, und die Massen, die vorbeiströmen, singen gleich mit.

Oh Mary, this London is a wonderful town – weiß Gott!

Jeder scheint jeden zu respektieren, entschuldigt sich, wenn er einem anderen auch nur im Weg sein könnte, liebt Menschenschlangen und den darin zwangsläufig entstehenden Smalltalk.

Wonderful London, das ist ein gigantisches Völkergemisch, Inder, Afrikaner, Chinesen prägen das Stadtbild genauso wie die käseweißen Engländer, die erst beim dritten Pint Carling eine rötliche Gesichtsfarbe entwickeln. Mag sein, dass diese Wahrnehmung blauäugig ist; ein Kollege begegnete einer britischen Walküre mit Schaftstiefeln und einem Hitler-T-Shirt.

Doch nur 75 Prozent der Londoner sind gebürtige Briten. Und begleitet wird das Stadtbild von einem harmonischen Sprachen-Wirrwarr, von lautem Gelächter, von Menschen, die grundsätzlich nicht in Eile sind, obwohl sich trotzdem alles schneller bewegt als in den meisten anderen Städten.

Verwandlung

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Kaum hinter dem Lenkrad wird Dr. Jekyll zu Mister Hyde (Nein, der Park ist nicht nach dem benannt, sondern nach einem alten Herrenhaus namens Hyde Manor). Und dann gibt es auch kein Pardon für Olympiatouristen, denn wer Ampeln und Schutzwege missachtet, landet auf der Motorhaube. Ein Radfahrer musste beim Olympiapark bereits sein Leben lassen, ein Londoner. Auch für ihn hat man ein mit Blumen und Kerzen geschmücktes, weiß lackiertes Fahrrad aufgestellt – von denen findet man so einige in Central London.

Sie sind so stolz auf diese Spiele, die Londoner! Von welchen Teufeln die internationale Reporterschar wohl geritten war, die vor Olympia von wilden Protesten, Sabotage und Boykott orakelte?

Die Milliarden von Bettwanzen in den Hotels sind ebenso ausgeblieben wie die Hooligan-Horden. Gut, kurz vor dem 100-Meter-Finale warf ein Betrunkener eine Bierflasche auf die Laufbahn. Er wurde verhaftet. Der höchst populäre Bürgermeister Boris Johnson entschuldigte sich mit Kniefall vor der Welt.

Raubritter

Ein Mann im schwarzen Anzug, flankiert von zwei Bobbys, steigt mit mir in die nächste U-Bahn. Sicher ein wichtiger Banker, denke ich, erst dann sehe ich die Handschellen. "Wieder ein Ticket-Schwarzhändler?" frage ich den Polizisten. "Nein, ein Taschendieb", antwortet der Taschendieb.

Mein Geld ist noch da, obwohl ich von Raubrittern umzingelt bin, denn die Preise bei allen Events sind astronomisch. Am meisten trifft das die Londoner, die keine Wasserflaschen durch die Security-Sperren nehmen dürfen, dann aber gut zwei Euro für einen halben Liter zahlen. Geld weg, Gold her, lautet das Motto. Sie scheinen alles in Kauf zu nehmen für ihre britischen Olympia-Helden.