Sport/Fußball

Im deutschen Dschungelcamp

Man stelle sich einmal vor, Österreich qualifizierte sich für die Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich. Gut, das allein würde jetzt die Vorstellungskraft vermutlich noch nicht übersteigen. Man stelle sich daher weiters vor, der ÖFB ließe dann für die Nationalmannschaft irgendwo in der französischen Pampa einen luxuriösen Hotelkomplex samt Fußballplatz erbauen, damit die österreichischen Kicker während des EM-Turniers nur ja bestmöglich untergebracht sind.

Undenkbar? Unmöglich? Unsinnig?

Was hierzulande, und wohl nicht nur hierzulande, als Spinnerei und Größenwahn ins Reich der Träume verwiesen werden würde, ist für den Verband der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten scheinbar die normalste Sache der Welt-Meisterschaften.

In Santo André, 1200 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro, wird seit Dezember für die deutsche Nationalmannschaft das Campo Bahia aus dem sandigen Boden gestampft. Ein feudaler Hotelkomplex mit 14 zweigeschossigen Gebäuden, 60 Zimmern, einem Schwimmbad und einem Trainingsplatz in der Nähe. Offenbar hatte der Deutsche Fußballbund (DFB), mit sieben Millionen Mitgliedern der größte Sportverband der Welt, im fünftgrößten Land der Erde keine adäquate Unterkunft für sein Team gefunden.

Platz für die Polen

Aber wenn es darum geht, die titellose Serie zu beenden – Deutschland wartet seit dem EM-Triumph 1996 auf einen Turniersieg – dann lässt man beim DFB nichts unversucht. Schon 2012 bei der EM in Polen und der Ukraine hatten die Deutschen für Erstaunen und auch ein wenig für Irritationen gesorgt, als sie in Danzig neben dem Teamhotel einen Fußballplatz hatten errichten lassen, damit den Spielern die zehnminütige Autofahrt zum nächstgelegenen Stadion erspart blieb. Die Sportanlage wurde danach der polnischen Jugend überlassen.

In Brasilien können sich die deutschen Teamspieler schon jetzt auf längere Reisen einstellen. Dschungelcamp wird das Campo Bahia mittlerweile bereits höhnisch genannt, weil Santo André gar so weit weg vom Schuss ist.

Perle des Atlantik

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Keine tausend Menschen leben in diesem Fischerdörfchen, die Straßen in Santo André haben noch nie Asphalt gesehen, die Abwässer versickern in Gruben, der Handyempfang lässt zu wünschen übrig. Wer die kleine "Perle des Atlantiks", wie Santo André wegen seiner weißen Strände auch genannt wird, erreichen will, muss entweder die Fähre nehmen oder über holprige Straßen anreisen, die immer wieder einmal von den in den Bergen lebenden Pataxo-Indianern blockiert werden, die so gegen Unterdrückung und Ausbeutung protestieren. Vorsorglich hat der DFB bereits ein Transportschiff gechartert.

Nachdem sich zuletzt die Horrorgeschichten über das WM-Camp gehäuft und Unwetter die Gegend unter Wasser gesetzt hatten, reiste Team-Manager Oliver Bierhoff noch einmal nach Brasilien. Wie groß die Nervosität sein dürfte, zeigt sich an der Baustelle, die inzwischen von der Außenwelt blickdicht abgeschottet ist. Die 200 Bauarbeiter sind angehalten, keine Auskünfte zu erteilen.

Immerhin konnte Oliver Bierhoff nach dem jüngsten Lokalaugenschein teilweise Entwarnung geben: "Bei meinem letzten Besuch war der Rasen noch braun, jetzt ist er grün. Bis zu unserer Ankunft wird er auch noch schön eben sein." Und falls die Arbeiten am Hotel doch noch in die Nachspielzeit gehen? "Dann sind wir flexibel und werden nicht lamentieren."

Früher oder später kommt die Zeit, da sich auch Joachim Löw an seinen Titeln wird messen lassen müssen, und nicht nur an seinen hervorragenden Statistiken und am offensiven und attraktiven Spielstil, den er der deutschen Nationalmannschaft verordnet hat.Tendenz: eher früher.

Denn zu groß ist mittlerweile in Deutschland die Sehnsucht nach einem Titel, zu oft hat die DFB-Elf in den letzten Jahren die Entscheidungsspiele verloren, und zu sehr nervt es, dass die deutsche Mannschaft inzwischen zwar regelmäßig den Schönheitspreis erhält, die Trophäen aber stets die anderen abräumen, vornehmlich die Spanier.

Despektierlich

Auch der Bundestrainer spürt den enormen Titelhunger, der die deutschen Fußballfans nach einer Finalniederlage (EM 2008) und zwei Semifinal-Niederlagen (WM 2010, EM 2012) eint. "Man hat das Gefühl, dass es nichts anderes als den Weltmeister-Titel für uns gibt", beschwerte sich Joachim Löw zuletzt, "das finde ich den anderen Nationen gegenüber ein bisschen despektierlich."

Löw weiß nur zu gut, wie schwierig die Mission WM-Titel in Brasilien ist. Da ist zum einen die WM-Statistik, laut der sich noch nie eine europäische Mannschaft bei einem Turnier außerhalb von Europa zum Weltmeister krönen konnte; da ist zum anderen aber auch die lange und prominente Verletztenliste der Deutschen. Mit Klose und Gomez sind derzeit jene beiden Stürmer außer Gefecht, auf die Löw in der Vergangenheit gesetzt hat, mit Gündogan, Khedira und Sven Bender befinden sich drei zentrale Mittelfeldspieler seit Wochen und Monaten im Krankenstand.

Der Bundestrainer wird am 8. Mai trotzdem den einen oder anderen Fußballer für die WM nominieren, der nur wenig Spielpraxis aufweisen kann. "Es gibt den einen oder anderen Spieler, der einen Mehrwert für die Mannschaft hat, auch wenn er nur zu 80 oder 90 Prozent fit ist", kündigte Löw an.

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