Sport/Fußball

Neue Euphorie im Land der Raunzer

Der Traum vom Wunderteam? Die Euphorie, die das Nationalteam momentan erzeugt, könnte den Liebhaber hoher österreichischer Fußballkunst in diese Sphären steigen lassen. Die rot-weiß-roten Gefühlsorgie beinhaltet ohnehin, sich entweder betrübt dem Tode zu nähern, oder im positiven Fall im himmelhohen Jubel zu versinken.

Groß ist jetzt die Begeisterung im Herbst 2014. Doch noch weit entfernt der sportliche Erfolg, der einst in den frühen 1930er-Jahren von einer Mannschaft, ideal gebettet in die damaligen Verhältnisse, herbeigezaubert worden war. Sindelar, Zischek oder Sesta, das "Wunderteam" von Trainer Hugo Meisl wurde Gewinner des Europapokals. Jenes Bewerbs, der sich jetzt Europameisterschaft nennt. 14 Mal in Folge blieb Österreich ungeschlagen, selbst Deutschland (6:0 in Berlin) stand als Jausengegner auf der Speisekarte.

Genug des unlauteren Vergleichs. Ja, es ist ein kleines Wunder, dass das Team nach jahrelangem Pessimismus, dem Dunkel am Horizont, jetzt wieder die Menschen von den Sitzen reißt. Sportlich erreicht wurde noch gar nichts. Aber wenigstens Träumen ist wieder erlaubt. Sie nimmt konkrete Formen an, die Vorstellung von einer EM, für die man sich erstmals auf sportlichem Wege qualifiziert.

Realist

Marcel Koller ist kein Träumer, auch kein "Wunderwuzzi", wie er laut Eigendefinition immer wieder feststellt. Er hat tatsächlich einige Charaktereigenschaften, die man hierzulande Schweizern zuschreibt. Er ist ruhig, besonnen, neigt selten zu Übertreibungen. Weshalb eine Aussage über das 1:2 gegen Brasilien fast schon einem euphorischen Ausbruch gleich- kommt. Warum denn Brasiliens Superstar Neymar eigentlich enttäuschend gespielt hatte? Wetter? Magenverstimmung? Liebeskummer? Nichts von alledem. Koller lehnte sich regelrecht aus dem Fenster, schiebt die Schuld seinen Spielern und seiner Taktik zu: "Ein bisschen Selbstlob kann schon sein. Ich habe die letzten fünf Spiele der Brasilianer analysiert, aber so gut wie wir hat keine andere Mannschaft verteidigt."

Österreichs Nationalteam ist den Österreichern wieder ans Herz gewachsen. Und wie: ausverkaufte Häuser gegen Schweden, Russland und Brasilien und über 40.000 Fans gegen Montenegro. Begeisterung mit magnetischer Wirkung. Nicht nur auf Fans, auch auf Geldgeber. "Es haben Sponsoren verlängert, die zu uns gehalten haben, als es nicht so gut lief", sagt ÖFB-Generaldirekter Alfred Ludwig. Ein neuer – streng geheim gehaltener Sponsorname – wird dazukommen. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger als: Das Budget des ÖFB für die Saison 2014/’15 (32 Millionen Euro) wird ein ausgeglichenes sein.

Erst im achten und letzten Spiel des Jahres 2014 gab es die erste Niederlage. Eine knappe, verursacht durch ein irreguläres brasilianisches Tor. Und man glaubt es Marcel Koller sogar, obwohl er so viel Emotion mitschwingen lässt wie die Bahnhofsdurchsage einer Fahrplanänderung: "Die Statistik schaut positiv aus und macht viel Mut." Selbst die Medien aus dem Land des fünffachen Weltmeisters versuchen sich im Bauchpinseln – für Terra Brasil ist " Österreich aktuell eine der herausragendsten Nationalmannschaften in Europa". Tatsache ist, dass sich Österreichs Teamspieler gut verkauft haben. In einer großen internationalen Auslage, zumindest in Ausschnitten war das Spiel in 160 Ländern der Welt zu sehen. Bis zu 1,229 Millionen hatten am Samstag das Russland-Spiel im ORF gesehen, bis zu 1,254 waren es am Dienstag bei der Brasilien-Partie.

Ansturm

224.500 Zuschauer sind 2014 zu den sechs Heimspielen gekommen, das macht einen Schnitt von 37.416 – der höchste Wert seit 1968. Damals gab es allerdings nur drei Heimspiele, eines davon gegen die BRD (70.000).

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In der FIFA-Weltrangliste fand seit Kollers Amtsantritt im November 2011 eine Steigerung von Rang 72 auf 29 statt. 1999, also fast in der fußballerischen Steinzeit, lag man auf Platz 17. 1998 war Österreich bei der WM, es war die letzte Qualifikation für ein Großereignis. Ludwig erinnert sich: "Nur damals war die Euphorie ähnlich."

Unter Koller hatte man das Ticket für die WM 2014 nicht lösen können. Die nächsten neun Länderspiele verloren die Österreicher aber nicht (Brasilien war das zehnte), weshalb man in Gruppe G die Tabelle anführt. Österreichs Team hat 2015 aber noch die "Chance", auf Rang vier zurückzufallen.

Kopfsache

Koller: "Die positiven Ergebnisse haben den Spielern Selbstvertrauen gegeben." In seiner persönlichen Hitliste des Jahres 2014 ist das Spiel gegen Montenegro (1:0) ganz oben, dann folgen die Leistungen gegen Brasilien und Schweden (1:1). Spielerisch sei noch Luft nach oben, vor allem im Abschluss noch Verbesserungsbedarf (fünf geschossene Tore, zehn Punkte).

Das Ergebnis von drei Jahren Arbeit sieht Marcel Koller so: "Die Spieler haben die Art, wie wir spielen wollen, in ihren Köpfen." Und dort haben übermütige Träume noch keinen Platz.

David Alaba wäre der Weltstar geworden, der er ist, egal wer in Österreich Teamchef ist. Doch Teamchef Koller hat es geschafft, dass die Mannschaft auch ohne den Vorzeigeprofi von Bayern München erfolgreich ist. Alaba konnte nur vier der acht Länderspiele des Jahres mitmachen – von denen nur das am Dienstag gegen Brasilien verloren wurde. Aleksandar Dragovic, Zlatko Junuzovic, Marko Arnautovic und Florian Klein sind die vier Spieler, die im Jahr 2014 in allen acht Spielen eingesetzt wurden. Unter den Vorzugsschülern des Teamchefs sind aber auch einige, denen andere Trainer wohl schon das Vertrauen entzogen hätten.

Marko Arnautovic

Der wohl am meisten polarisierende Teamspieler war gegen Montenegro, Russland und Brasilien einer der absoluten Leistungsträger. Noch im Oktober hatte Koller im KURIER-Interview über die fußballerischen Fähigkeiten des 25-Jährige gesagt: "Wie er die voll ausspielen kann – das hat noch kein Trainer herausgefunden." Offenbar hat er einen Weg gefunden, wie der England-Legionär zu einer tragenden Säule des Teams werden konnte: "Er hat einen guten Körper, Schnelligkeit und Power – was er manchmal auch zeigt. Es ist aber wichtig, dass er permanent auf diesem Niveau spielt."

Aleksandar Dragovic

"Er hatte schon immer Präsenz und gutes Zweikampfverhalten, hat aber Ruhe und Klarheit dazugewonnen", sagt Koller. Der 23-jährige Innenverteidiger von Dynamo Kiew ist in den letzten drei Jahren zum Abwehrchef gereift. "Er war von Beginn an bei unserem Projekt dabei und hat sich als Persönlichkeit weiterentwickelt."

Christian Fuchs

Der Linksverteidiger macht eine sportliche Berg- und Talfahrt mit. Bei Schalke steht der 28-Jährige in der Kritik. Im Team steht Koller voll hinter seinem Kapitän, der in den letzten drei Partien auf sehr hohem Niveau spielte. "Es spielt sich viel im Kopf ab", sagt Fuchs. Der hatte nach dem Montenegro-Spiel das erste Schalke-Spiel unter dem neuen Trainer Roberto di Matteo absolviert. Er wurde gelobt und saß danach drei Spiele auf der Bank. Undenkbar unter Koller.

Robert Almer

Der Steirer weiß, dass ein Fehlgriff von ihm wieder eine Tormanndebatte lostreten würde. Er ist aber der Inbegriff des Koller’schen Vertrauens. Schon beim ersten Länderspiel des Schweizers (15. November 2011) stand der heute 30-Jährige im Tor. Almer musste später nach dem Aufstieg auf die Düsseldorfer Bank, musste bei Zweitliga-Absteiger Cottbus aus finanziellen Gründen auf die Tribüne und ist jetzt in Hannover Zweiter hinter Deutschlands Teamtormann Zieler. Almer ist einer von denen, die profitieren vom Credo Kollers: "Wir sind überzeugt von diesen Spielern. Es ist wichtig, ihnen Vertrauen zu geben."

Die KURIER-Noten für die Teamspieler

Als der Autor dieser Zeilen am 12. Juni 2008 die Freude hatte, im Happel-Stadion dem Spiel Österreich – Polen beizuwohnen, sagte er nach dem Elfmetertor von Ivica Vastic zu seinem Sohn: Das war historisch! Nie wieder wird ein österreichisches Fußballteam ein Tor bei einer Europameisterschaft schießen.

Darauf sollte man jetzt lieber nicht mehr wetten.

Marcel Koller hat aus einem Haufen von Individualisten, manche davon Exzentriker, eine verschworene Gemeinschaft geformt. Gut möglich, dass sich das Team erstmals aktiv (nicht nur als Gastgeber) für eine EM qualifiziert. Sogar gegen Brasilien war es zumindest nicht die schlechtere Mannschaft. Aber verlassen wir die Ebene der sportlichen Erfolge, kommen wir auf eine andere.

Fußball ist in Österreich wieder in und macht Menschen träumen. Das positive Lebensgefühl wird bei vielen durch gelungenen Kick mehr gefördert als durch jedes vegane Restaurant. Man fühlt sich nicht mehr als verblendeter Idealist, wenn man ins Stadion geht. Es gibt sogar Untersuchungen, die zeigen, dass Tore beim Fußball die Wirtschaftsleistung eines Landes ankurbeln.

Das Theater im Stadion hat mittlerweile Ähnlichkeit mit Kulturveranstaltungen – der Cheftrainer ist ja passenderweise ein Freund der klassischen Musik. Die Frisuren (in die Höhe ragende rote Kämme) sind sogar stärker toupiert als im Konzertsaal, das Make-up der Fans ist fantasievoll. Der Radetzkymarsch wird mitgeklatscht wie zu Neujahr im Musikverein. Das Publikum ist so jung, wie es sich Kulturveranstalter wünschen. Und die Inszenierung auf dem Feld: faszinierend. Den besten Regieeinfall präsentierte übrigens der Brasilianer Neymar: Wie er seine Auswechslung zelebrierte, hatte nichts mit Fußball, aber viel mit Performancekunst zu tun hatte.

Auf Wiedersehen bis 22. März 2015. Dann werden 23 Spieler einrücken, um sich auf das nächste Länderspiel am 27. März in Vaduz vorzubereiten. Liechtenstein ist der Gegner in der EM-Qualifikation. Vier Tage später tritt das Nationalteam wieder im Wiener Ernst-Happel-Stadion auf, in einem Test gegen Bosnien-Herzegowina. „Das Interesse für Karten ist schon jetzt sehr groß“, sagt ÖFB-Generaldirektor Alfred Ludwig. Am 1. Dezember beginnt der Vorverkauf, etliche Österreicher sehen derzeit ein Ticket für ein Fußball-Länderspiel als schönes Weihnachtsgeschenk an.

Vier Monate Pause bedeuten für den Teamchef aber nicht, vier Monate auf der faulen Haut zu liegen. Zumal Marcel Koller als penibler Arbeiter gilt. „Vorerst aber werde ich in den nächsten Tagen etwas entspannen“, sagte Koller. Danach gelte es, mit Spielern zu kommunizieren, Spiele zu beobachten und sich auf die nächsten Partien vorzubereiten. Koller: „Liechtenstein habe ich schon im Spiel gegen Russland studiert, allerdings mit Fokus auf die Russen.“

Dass er den Spielern abgeht, glaubt Koller nicht. „Ich glaube, dass sie froh sind, dass sie mich nicht mehr hören müssen.“ Es werde im März schwierig genug, wieder in die Gänge zu kommen. „Dann geht es wieder los mit dem Beten: Defensive, Offensive, Defensive ...“