Sport/Fußball

Das Finale der Copa America: Eine Bühne für Bolsonaro

Ein paar Minuten lang gibt es diesen ohrenbetäubenden Klangbrei aus Pfiffen, Buh-Rufen, aus Jubel und „Mythos, Mythos-Sprechchören“. Jair Bolsonaro ist im Stadion. Und in der Halbzeitpause des Klassikers im Halbfinale der Copa América zwischen Brasilien und Argentinien taucht der neue brasilianische Staatspräsident plötzlich im Innenraum des Stadions auf. Er sucht die Nähe zu den Fans, läuft von der Mittellinie bis in die Kurve der Argentinier.

Diejenigen, die sich mit Bolsonaro identifizieren, sind begeistert. Die anderen entsetzt. Es scheint, als mische sich in diesem Geschrei und den Pfiffen die gesamte Polarisierung eines zutiefst gespaltenen Landes. Besonders laut wird der Jubel im Stadion Belo Horizonte, als sich Bolsonaro eine brasilianische Fahne greift und sie durch die Luft wirbelt.

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1:7– fünf Jahre später

In den letzten Jahren hatten die Brasilianer nicht viel, worauf sie stolz sein konnten. Die WM im eigenen Land endete mit einem 1:7-Trauma gegen Deutschland. Olympia 2016 in Rio de Janeiro wurde wegen organisatorischer Mängel scharf kritisiert. Ein gewaltiger Korruptionsskandal überschattete die Großereignisse. Statt dem erhofften Aufschwung zu einer südamerikanischen Supermacht stürzte das Land wirtschaftlich ab. Nach einer Serie von vier Großereignissen in sechs Jahren – Confed-Cup 2013, WM 2014, Rio 2016, Copa América 2019 – könnte der letzte Tag dieser Veranstaltungsserie zu einem Triumph werden. Es wäre Balsam für die brasilianische Fußballseele, aber wirklich geheilt wird sie erst mit einem sechsten Weltmeistertitel.

Nüchtern betrachtet war diese Copa América ein wirtschaftlicher Erfolg. Laut offiziellen Angaben haben die Veranstalter trotz einiger leerer Ränge bei den Vorrundenspielen dank der hohen Eintrittspreise so viel an Eintrittsgeldern eingenommen wie alle brasilianischen Vereine in den 89 Liga-Spielen der aktuellen Spielzeit zusammen. Insgesamt strömten nach verhaltenem Beginn rund 780.000 Zuschauer in die Stadien. Es gab keine gewalttätigen Ausschreitungen, keine schwer bewaffneten Militärs, die die Copacabana bewachen mussten. Stattdessen kamen Familien mit ihren Kindern, die sonst fernbleiben, weil ihnen ein Stadionbesuch in der Liga wegen der ständigen Ausschreitungen zu gefährlich ist.

Aus Argentinien, Chile, Kolumbien und Peru kamen tausende Fans vor allem nach Rio de Janeiro und machten den Strand zu ihrer Partyzone. Statt Budweiser und McDonalds (FIFA-Sponsoren) wurden in den Stadien lokale Produkte verkauft. Beim Finale am Sonntag (22 Uhr MESZ) tritt der brasilianische Superstar Anitta auf und nicht irgendein Kunstprodukt aus den Studios in Hollywood oder New York.

Am Sonntag kehrt die Seleção nun ins Maracanã zurück. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte gewesen, wenn der Gastgeber weder bei der WM noch bei der Copa América im eigenen Land im wohl berühmtesten Stadion Südamerikas nach dessen sündhaft teuren Renovierung um rund 310 Millionen Euro hätte auflaufen dürfen. Die Brasilianer können sich jetzt ihr Maracanã von der korrupten FIFA und dem IOC „zurückholen“ – ein Sieg über Außenseiter Peru vorausgesetzt. Jenem Stadion, in dem Brasilien das „Finale“ der WM 1950, das eigentlich ein letztes Finalrundenspiel gegen Uruguay war, vor der sagenhaften Kulisse von rund 200.000 Zuschauern verlor und anschließend in eine tiefe Depression stürzte– ehe Pele begann erst das Land und dann die Welt zu verzaubern.

Tite ist jetzt ein Trainer

Brasiliens Teamchef Tite versucht erst gar nicht die Bedeutung des Augenblicks herunterzuspielen. Ein Spieler, der noch nie im Maracanã gespielt habe, sei kein Spieler, sagt der Mann, der die Seleção auch ohne den verletzten Superstar Neymar wieder in ruhigere Fahrwasser führte. „Und mit mir ist es die gleiche Sache. Habe ich im Maracanã die Seleção betreut. Nein? Dann bin ich kein Trainer. Aber jetzt werde ich die Mannschaft im Maracanã zum ersten Mal in meiner Karriere trainieren. Jetzt bin ich ein Trainer“, sagte Tite.

Das Finale könnte die Brasilianer ein wenig versöhnen mit einer Dekade, die alles besser machen sollte, am Ende aber in einem Desaster endete. Einer verfolgt das ganze als Zaungast. Der verletzte Superstar Neymar sah das Halbfinale von der Tribüne aus, jubelte über die beiden Treffer von Gabriel Jesus und Roberto Firmino. Aber er wird auch gesehen haben, da wächst etwas heran. Eine neue Seleção , die vielleicht auch ohne ihn erfolgreich sein könnte. Die über den Mannschaftsgedanken funktioniert, mit dem überragenden Schlussmann Alisson Becker, der bei diesem Turnier noch unbezwungen ist. Und mit einem Gabriel Jesus, der so ganz anders ist als der Ich-bezogene Neymar, der sich selbst über den Erfolg der Mannschaft stellt. Neymar wird wenige Wochen nach der WM 2022 in Katar bereits seinen 31. Geburtstag feiern. Bis dahin sind die Konkurrenten im Sturm Gabriel Jesus, Richarlison, David Neres allesamt im bestem Fußballalter, haben sich in den europäischen Topligen bewährt.

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Neymar geht nicht ab

Und wer weiß, ob bis dahin nicht aus den unergründlichen Tiefen den brasilianischen Fußball-Reservoirs noch ein neuer junger unverbrauchter Neymar emporsteigt, der jetzt erst 15, 16 Jahre alt ist und die Nation verzaubert – wie es der junge Neymar anfangs tat. Die Copa América 2019 kann die Weichen stellen in Brasilien. Fußballerisch, politisch, gesellschaftlich. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Fußball-Turnier ein Land eine ganze entscheidende Richtung gibt. Jair Bolsonaro wird am Sonntag auch im Maracanã erwartet. Eine Woche nach dem auch in Rio de Janeiro Tausende Menschen für seine Politik auf die Straße gingen. Der Trittbrettfahrer der Emotionen will das Finale zu einem Stimmungstest für seine Politik machen. Seine Chancen, dass das Kalkül aufgeht, stehen nicht schlecht.