Armstrong: Getriebener mit großem Herzen
Von Stefan Sigwarth
Ein Zweijähriger, dessen Vater sich davonmacht und zu dem es nie wieder Kontakt gibt;
ein Dreijähriger, dessen Mutter einen Mann heiratet, der sich als gewalttätig entpuppt und der nie ein normales Verhältnis zu seinem Stiefsohn aufbauen kann;
ein 13-Jähriger, der den Sport und da den Triathlon als Möglichkeit zu Flucht und Selbstfindung entdeckt;
ein 21-Jähriger, der der jüngste Straßenweltmeister aller bisherigen Zeiten wird;
ein 25-Jähriger, bei dem Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium (Metastasen in Bauch und Lunge; Hirntumore) festgestellt wird;
ein 33-Jähriger, der seit 2005 siebenfacher und damit Rekordsieger der Tour de France ist.
Das ist Lance Armstrong.
Die Geschichte des inzwischen 40-jährigen Texaners ist ein einziges Auf und Ab. Seit Donnerstagnacht ist er wieder einmal unten. Ganz unten. Weil er sich nicht dem Verfahren der amerikanischen Anti-Doping-Agentur USADA stellen wollte, steht Lance Armstrong nun vor dem Aus. Als Triathlet jedenfalls; er wurde lebenslang gesperrt. Als Radsport-Idol wohl eher nicht. Denn seine Tour-Erfolge (von denen ihm auf Grund der achtjährigen Verjährungsfrist allenfalls sein letzter aberkannt werden könnte) fielen in die Hochblüte des Dopings. Die zwischen 1999 und 2005 nach ihm klassierten Fahrer tappten vorher oder nachher nahezu ausnahmslos in jene Dopingfalle, in der sich Armstrong nur einmal verfangen hat.
Offiziell jedenfalls.
Der Verdächtige
Man schrieb das Jahr 1999, Armstrong, 28, fuhr die Tour de France. Die Dopingfahnder konnten erstmals einen neuen Test einsetzen, und nicht weniger als 16 Athleten wurden daraufhin mit Kortison erwischt. Zwar reichte Armstrong ein entsprechendes Rezept nach – doch dem Reglement nach hätte er das vorher tun müssen. Ein Prozedere, wie es bei Ausdauerathleten Usus ist (Stichwort Asthmasprays); bei Zuwiderhandlungen gibt’s Sperren.
Eine solche blieb bei Armstrong aus. Und auch die Tatsache, dass ein Jahr später verdächtiges Material von seinem damaligen Teamarzt Luis de Moral entsorgt wurde (darunter Actovegin, dessen Gebrauch dem Dopingreglement widerspricht), hatte keine weiteren Folgen – die französischen Ermittler stellten das Verfahren 2002 ein.
2005 wurde im französischen Labor in Châtenay-Malabry erstmals ein neues Analyseverfahren zur Jagd auf EPO-Doping eingesetzt, und um die Aussagekraft des Tests zu überprüfen, wurden auch alte, eingelagerte Proben getestet. Darunter, wie anhand der Strichcodes festzustellen war, befanden sich sechs von Lance Armstrong von der Tour de France 1999. Sie enthielten EPO, doch es waren nur noch die A-Proben vorhanden, weshalb es zu keinem Verfahren kommen konnte.
Lance Armstrong war ganz offiziell supersauber. Und die Aura des unbesiegbaren Tour-de-France-Helden polierte er auf den roten Teppichen dieser Welt weiter auf. Ab Herbst 2003 war er mit Sängerin Sheryl Crow liiert, 2004 verließ er seine Frau Kristin und die gemeinsamen drei Kinder (Luke David und die Zwillinge Isabelle Rose und Grace Elisabeth), um fortan als Teil eines Glamour-Paares die Partys zu schmücken.
Der Wohltätige
Und natürlich auch, um Spenden zu sammeln. Nach seiner Krebserkrankung, die ihn einen Hoden kostete (die drei Kinder mit Kristin wurden durch künstliche Befruchtung gezeugt), gründete Armstrong 1997 eine Stiftung, die durch den Verkauf der gelben "Livestrong"-Armbänder des Sportartikelherstellers Nike bisher weit mehr als 80 Millionen US-Dollar eingebracht hat.
Der Erlös geht komplett an die Lance Armstrong Foundation, die Krebskranke unterstützt, mit den gesammelten Spenden kam bisher mehr als eine halbe Milliarde Dollar zusammen. Und an dieser Seite der vielschichtigen Betätigungsfelder Armstrongs wird sich kaum etwas ändern, egal, wann und wie und wo nun sein Verfahren ausgehen wird.
Der Rastlose
Während sein soziales Engagement immer mehr Erfolge brachte, krachte es in Lance Armstrongs Privatleben einmal mehr. Denn auch die Beziehung mit Sheryl Crow stand unter keinem guten Stern. Am 6. September 2005, rund sechs Wochen, nachdem er als nun siebenfacher Tour-de-France-Sieger seinen Rücktritt vom Leistungssport erklärt hatte, gab Armstrong die Verlobung bekannt – am 3. Februar 2006 erklärte das Paar per Aussendung seine Trennung.
Der Bewegungsjunkie
Sportpensionist Armstrong brauchte lange, um zur Ruhe zu kommen. Und er setzte dabei auf jenes Mittel, das ihm schon in seiner Kindheit geholfen hatte: den Sport. Armstrong begann, für den New York Marathon zu trainieren, am 5. November 2006 kam er nach 2:59:36 Stunden ins Ziel. Ein Jahr später verbesserte er seine Zeit auf 2:46:43.
Und auch privat stellten sich neue Erfolge ein. Die Beziehung zu Anna Hansen war ein wichtiger Meilenstein. Und das in mehrerlei Hinsicht: Eigentlich war der Amerikaner nach seiner Hodenkrebserkrankung samt schwerer Chemotherapie für zeugungsunfähig gehalten worden, doch im Dezember 2008 ließ er die Welt wissen, dass er und seine neue Partnerin ein Kind erwarten. Ohne die Hilfe der Ärzte. Inzwischen ist die Familie Hansen-Armstrong auf vier Personen angewachsen, zu Filius Maxwell Edward gesellte sich 2010 Tochter Olivia Marie.
Ab 2009 kehrte Lance Armstrong dann doch noch einmal in den Straßenradsport zurück. An die ganz großen Erfolge konnte er, 37-jährig, zwar nicht mehr anknüpfen, doch der dritte Platz hinter dem spanischen Jungstar Alberto Contador bei der Tour de France und der zwölfte beim Giro d’Italia waren noch einmal ein großes Ausrufezeichen unter eine Traumkarriere.
2010 wollte er es laut seinen Ankündigungen noch einmal so richtig wissen, mit seinem eigenen Rennstall RadioShack. Doch er konnte nicht mehr. Mit fast 40 Minuten Rückstand schleppte sich Armstrong ins Ziel, Platz 23 war eine Enttäuschung und das Zeichen zum Aufhören. Bei der Tour Down Under stieg er am 23. Jänner 2011 ein letztes Mal aufs und vom Rad.
Seine geplante Triathlonkarriere wurde durch die nun verhängte Sperre beendet. Doch sein Ziel, "der fitteste 40-Jährige der Welt" zu sein, das kann Lance Armstrong auch so erreichen.
Der Verurteilte
Was bleibt? "Wenn er aus den Siegerlisten gestrichen wird, werden die Ergebnisse auch nicht glaubwürdiger", sagte Sky-Teamdirektor Steven de Jongh. "Armstrongs Erfolge sind nichts mehr wert", sagte John Fahey, der Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur.
Und der deutsche Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel sprach sich überhaupt dafür aus, "kein Sieger" auf die Ehrentafeln zu schreiben. Alles andere wäre "lächerlich, die Top Ten dürften alle gedopt gewesen sein."
Tatsache ist aber auch, dass Armstrong und seine Gegner sieben Jahre lang eine große Show geliefert haben. Und die bestand etwa auch darin, dass der Amerikaner wartete, als sein deutscher Konkurrent Jan Ullrich einmal versehentlich einen Abhang hinuntergefahren ist.
Albert Einstein hätte seine Freude: der Sport als neues Anwendungsgebiet für die Relativitätstheorie ...
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