Sport

Weltrekord in Wien: "Werde die letzten 100 Meter nie vergessen"

Plötzlich laufen der Pressebetreuerin die Tränen über die Wangen. "Sorry, I’m so impressed!" (Ich bin so beeindruckt), schluchzt die Frau, als Eliud Kipchoge zum ersten Mal an der Fanzone in der Hauptallee vorbeiläuft, in einem für einen Normalsportler schier unfassbaren Tempo, mit mehr als 21 km/h.

Tatsächlich kann sich kaum ein Zuschauer der Faszination der Ineos 1:59 Challenge entziehen. Als erster Mensch der Welt läuft Eliud Kipchoge die Marathon-Distanz unter zwei Stunden, die 42,195 Kilometer bewältigt er in 1:59:40,2. Der 34-Jährige reiht sich damit ein in die Liste der größten Langstreckenläufer der Geschichte: Paavo Nurmi, Emil Zatopek oder Haile Gebrselassie.

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Menschenmassen

Es ist schwer, einen Wiener an einem Samstagmorgen im Oktober auf die Straßen zu bringen. Doch gestern füllt sich der Stadionparkplatz schon um 8 Uhr; Menschen mit Kenia-Fahnen ziehen in Richtung Hauptallee; 60.000 Fans säumen die Straße, in Fünferreihen stehen sie an den Absperrungen. Der in Kenia geborene Rad-Superstar Christopher Froome darf in der Fanzone ebenso ein Interview geben wie der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig. Im Mittelpunkt steht aber nur ein Mann: Eliud Kipchoge, der schnellste Marathonläufer, den die Welt je gesehen hat.

Exakt um 8.15 Uhr startet Kipchoge auf der Reichsbrücke. Von fünf Tempomachern angeführt und von zwei weiteren flankiert läuft Kipchoge in seinem vorgegebenen Tempo von 2:50 Minuten pro Kilometer zum Praterstern. Von dort geht es in die Hauptallee, die neun Mal zu durchlaufen ist.

Bei seinem ersten Versuch vor zwei Jahren in Monza war der Kenianer noch an der Zwei-Stunden-Grenze gescheitert. Diesmal wurde nichts dem Zufall überlassen. Für das Projekt spielte Geld keine Rolle. Die Rechnung zahlte vor allem der britische Chemiekonzern Ineos.

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Wissenschaft

Wetterdaten des vergangenen Jahrzehnts wurden analysiert und mit aktuellen Messwerten kombiniert. Dann erst legte man die exakte Startzeit fest. Mit Erfolg. Bei 10 Grad, bedecktem Himmel und absoluter Windstille findet Kipchoge perfekte Bedingungen vor.

Ein Auto projiziert mit einem Laser die angepeilte Geschwindigkeit auf den Asphalt. Die Tempomacher, allesamt Weltklasse-Athleten, wechseln einander alle 4,3 Kilometer ab, eingespielt wie bei einem Boxenstopp der Formel 1 funktioniert die Übernahme.

Teile der Hauptallee wurden für den Lauf neu asphaltiert, um das Lusthaus führt eine überhöhte Kurve, die insgesamt 13 Sekunden bringen soll, zwei orange Linien markieren die Ideallinie. Ein Asphaltstück wurde sogar in die USA zur Analyse geschickt. Dort produzierte Nike den perfekt darauf abgestimmten Laufschuh. Da Kipchoge kaum mit der Ferse aufkommt, hat der Schuh im hinteren Bereich kein Profil. In der Sohle unterstützt eine harte Carbonplatte das optimale Abrollen und soll einen Feder-Effekt erzeugen.

Erstmals greift Kipchoge nach fünf Kilometern zur Trinkflasche, die ihm sein Manager Valentijn Trouw vom Fahrrad aus reicht. Darin ist natürlich kein Wasser, auch kein normaler Iso-Drink. Kipchoge trinkt ein eigens für ihn produziertes Getränk, die Inhaltsstoffe auf seinen Körper abgestimmt. So muss er während der zwei Stunden keine Gels oder Riegel zu sich nehmen.

Kipchoge ist sich auch in Wien seiner Stärke bewusst. Elf Marathons ist er bisher gelaufen, zehn hat er gewonnen, ungeschlagen ist er seit April 2014. 2016 siegte er bei Olympia, 2020 will er in Tokio den Erfolg wiederholen. Er weiß es und er sagt es auch vor dem Lauf: Wenn er die zwei Stunden knacken will, dann heute. Es wird für ihn keine dritte Chance geben.

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Uhrwerk

Bald liegt Kipchoge zehn Sekunden unter der anvisierten Zeit. Gut zu erkennen ist der Star in der Gruppe der Pacemaker. Konzentrierter, nach vorne gerichteter Blick, weißes Shirt, weiße Schuhe und ein ökonomischer Laufstil wie aus dem Lehrbuch. Wie ein Uhrwerk hält die Gruppe die Geschwindigkeit.

Bei Kilometer 35 huscht ein erstes Grinsen über Kipchoges Gesicht. Noch zwei Kilometer, neun Sekunden Vorsprung: Kipchoge lacht bei diesem Höllentempo. Um 10:14 Uhr ist das Projekt beendet, erfolgreich. Mit einem erhobenen Arm läuft er über die Ziellinie, er schlägt sich auf die Brust, umarmt seine Frau, die drei Kinder und den Trainer, lässt sich feiern. Mit einer kenianischen Fahne dreht er eine Ehrenrunde, klatscht mit den Zuschauern ab. "Heroes" von David Bowie klingt aus den Lautsprechern. Was sonst? "Jetzt hat er Geschichte geschrieben", sagt sein Coach Patrick Sang.

Übrigens: Weil die Zeit nicht in einem echten Wettkampf erbracht wurde, gilt die Marke auch nicht als Marathon-Weltrekord. Dieser steht bei 2:01:39 Stunden, aufgestellt im Vorjahr in Berlin – von Eliud Kipchoge.

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Nachgefragt

Entspannt und zum Scherzen aufgelegt erschien Eliud Kipchoge eine Stunde nach seinem Lauf zur Pressekonferenz. Vor zirka 70 Journalisten sprach er über ...

  • ... den Lauf über die Ziellinie: "Das war der beste Moment in diesem Leben. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Diese letzten hundert Meter werde ich nie vergessen."
     
  •   ... seine Vorbereitung: "Ich habe viereinhalb Monate für diesen Lauf trainiert. Ich habe dieses Tempo immer im Kopf gehabt und gewusst, dass ich es halten kann."
     
  • ... den Lauf: "Ich bin ruhig geblieben und habe mich an alle Anweisungen gehalten. Mein Kopf war klar. Meine Tempomacher haben einen absolut perfekten Job gemacht. Probleme hab ich in keiner Phase bekommen. Mein Versuch vor zwei Jahren in Monza war ein Test. Jetzt hat mir meine Erfahrung geholfen."
     
  • ... seine Sorgen: "Ich war zu 90 Prozent überzeugt, dass ich das schaffe. Aber es hätte auch anders ausgehen können. Ich bin um 3 Uhr aufgewacht und um 5 Uhr aufgestanden. Die Zeit bis zum Start um 8:15 Uhr  waren die schlimmsten Stunden. Ich war richtig nervös, denn die Last auf meinen Schultern war groß. Es hat mich sogar der Präsident Kenias angerufen."
     
  • ... Grenzen: "Grenzen sind im nur Kopf. Die muss man wegklicken können."