Leben/Reise

Überlaufene Urlaubsziele: Wenn Tourismus zum Problem wird

Blaue Kuppeln, weiße Hauswände und dahinter endloses Meer: Einst galt Santorin als die romantischste Inselgruppe Griechenlands, heute ist sie vor allem überlaufen. Gemütliches Schlendern durch die engen Gassen ist schier unmöglich – als Besucher muss man sich im Gleichschritt mit zehntausenden Touristen bewegen.

Die Kykladeninsel ist eine von vielen Orten, die mittlerweile unter sogenanntem „Overtourism“ (Anm.: eine problematische Entwicklung des Massentourismus, bei der es zu einem Konflikt zwischen Einheimischen und Touristen kommt) leiden. Vor allem die vielen Kreuzfahrtschiffe, die täglich tausende Passagiere abladen, gelten als großes Problem für die Menschen vor Ort: „Dadurch werden die Einheimischen in ihrer Lebensweise sehr eingeschränkt, obwohl sie gleichzeitig nicht von dieser Art des Tourismus profitieren“, erklärt Harald Pechlaner, Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Overtourism-Studie

Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Ludwig-Maximilians-Universität München hat Pechlaner eine europaweite Langzeitstudie zum Thema Overtourism durchgeführt. Dass das Thema Massentourismus brandaktuell ist, belegen die Zahlen: So wurden 2017 laut ITB Berlin, Leitmesse der weltweiten Reisebranche, fast 1,2 Milliarden internationale Reisen weltweit verzeichnet, 6,5 Prozent mehr als 2016 – Tendenz steigend.

„Es war absehbar, dass es bei diesen Entwicklungen irgendwann ausarten wird,“ meint Jürgen Schmude, Professor für ökonomische Geografie und Tourismuswissenschaften an der Universität München, der ebenfalls an der Overtourism-Studie beteiligt war. „Bisher ist im Marketing und in der Forschung immer nur der Tourist im Mittelpunkt gestanden. In der jüngsten Diskussion wird erstmals die Lage der Einwohner berücksichtigt.“ Neben den stetig wachsenden internationalen Besucherzahlen sei vor allem die zunehmende Unzufriedenheit vieler Bewohner ein Grund für die neue Perspektive gewesen, sagt Pechlaner: „Overtourism hat etwas mit der psychologischen Tragfähigkeit der Einheimischen zu tun. Es geht also darum, wie viele Touristen die Menschen vor Ort aushalten. Und gerade wurde in einigen Städten der Zenit erreicht.“

Demonstrationen

Dass es vielen Städtebewohnern mittlerweile reicht, wurde in den vergangenen Jahren durch zahlreiche Protestaktionen deutlich: In Venedig stellten sich bereits 2015 rund 2000 Einheimische dem 300 Meter langen Kreuzfahrtschiff „Queen Victoria“ bei der Einfahrt in den Kanal in die Quere. Ähnlich in Barcelona: Im Sommer 2017 versperrten Demonstranten am Strand liegenden Touristen auf der Barceloneta den Zugang zum Meer. Ende letzten Jahres gingen zum ersten Mal auch in Palma de Mallorca einige Spanier mit „Tourist go home!“-Plakaten gegen die Besuchermassen auf die Barrikaden.

Aber wer ist Schuld an dieser Entwicklung? Laut Pechlaner seien vier Aspekte für Overtourism verantwortlich: „Neben dem Kreuzfahrttourismus nimmt der internationale Tourismus weltweit in Städten stetig zu, zusätzlich machen Low-Cost-Airlines und digitale Buchungsplattformen das Reisen für eine breitere Zielgruppe möglich“, erklärt der Wissenschaftler die extremen massentouristischen Entwicklungen.

Paradoxon

Laut der Welttourismusorganisation „iwd“ sind die Chinesen das reiselustigste Volk: Sie gaben 2017 rund 258 Milliarden Dollar für Reisen ins Ausland aus. Spanien gilt weltweit als beliebtestes Reiseziel. Die Anwohner empfinden die wachsenden Touristenmassen dabei nicht nur als lästig, sie leiden vor allem unter den steigenden Preisen, die der Ansturm zur Folge hat – und die bereits einige aus ihren Altstadtwohnungen vertrieben haben.

„Das ist das Paradoxe: Die Menschen regen sich über den Tourismus auf, gleichzeitig sind es aber die Einheimischen selbst, die ihre Wohnungen teuer an Besucher vermieten“, sagt Pechlaner.

Sperrzonen

Dass Orte wie Barcelona, Venedig oder Santorin vom Tourismus wirtschaftlich abhängig sind, ist kein Geheimnis. Zu lange wurde dieser aber nicht reguliert, die Bedürfnisse der Einwohner wurden ignoriert. Nicht ohne Folgen. Pechlaner: „Wenn Einwohner das Gefühl haben, der Tourismus nimmt überhand, kippt die Stimmung. Darunter leiden dann Einheimische wie Reisende.“

Deutlich wird die Problematik auch im asiatischen Raum: Die beliebte Maya Bay auf der Insel Ko Phi Phi wurde durch den Film „The Beach“ mit Leonardo Di Caprio im Jahr 2000 international bekannt – und wird seitdem täglich von Touristenmassen und anlegenden Motorbooten regelrecht überschwemmt. Hier leidet vor allem die Umwelt unter dem Massenansturm. Dieses Jahr soll sich der Strand erstmals erholen können: Seit 1. Juni ist er vier Monate lang für Touristen gesperrt.

Noch radikaler geht die philippinische Regierung vor. Präsident Rodrigo Duterte ließ die Insel Boracay, die 2017 vom „Condé Nast Traveller“ noch zur schönsten Insel der Welt gekürt wurde, wegen Problemen mit dem Umweltschutz kurzerhand komplett evakuieren.

Pechlaner beurteilt solche Ad-hoc-Maßnahmen kritisch: „Als Botschaft für die Einheimischen ist es zwar wichtig, zu zeigen, dass etwas getan wird, langfristig kann das Problem damit aber nicht gelöst werden.“

Mögliche Lösungsstrategien müssen für jeden Ort individuell entwickelt werden. „Overtourism in Barcelona ist nicht derselbe wie jener in Venedig“, betont Schmude.

Lösungsansätze

Jetzt liege es an der Touristik, den Dialog mit Anwohnern zu suchen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

„Tourismusorganisationen entwickeln sich immer mehr zu Destinationsmanagementorganisationen, um die Touristenströme zu lenken“, beobachtet Ulrike Rauch-Keschmann, Unternehmenssprecherin bei Österreich Werbung. Aus Marketingsicht sei es die Aufgabe der Organisationen, einen Ausgleich zwischen Bewohner- und Touristenbedürfnissen zu schaffen: „Hier liegt der Erfolg, denke ich, im gemeinsamen Gestalten von Tourismus, Bevölkerung und Infrastruktur – und zwar für die gesamte Region.“

Um die Massen an besonders beliebten Sightseeing-Orten einzudämmen, können neben Zugangsregulierungen auch Alternativvorschläge angeboten werden. Einige Städte ließen bereits Apps entwickeln, die Wartezeiten anzeigen. „Man kann Menschen nicht verbieten, einen Ort zu besuchen, aber man kann die Zahl der Besucher beschränken,“ rät Pechlaner. Auf Santorin könnten Besucher so zukünftig vielleicht wieder einen Blick auf das Meer erhaschen.

An welche Orte Sie abseits vom Massentourismus reisen können, lesen Sie am Sonntag in der Reise-Beilage.

Überlaufene Orte in Österreich

Als Hollywood-Feschak Ashton Kutcher 2015 ein Foto eines „wahren Atlantis“  in sozialen Medien verbreitete, gingen die Wogen hoch am Grünen See. Besuchermassenmäßig: Der grünfunkelnde Teich, der  nach der Schneeschmelze  Wege und Bänke überflutet, war eher ein Geheimtipp. Plötzlich wurde er international ein Renner.

Gut 100.000 Besucher hat das geschützte Naturjuwel also jetzt pro Jahr. An Feier- und Sonntagen tummeln sich 6000 Besucher dort, 1400 Fahrzeuge registriert die Gemeinde Tragöss-St.Katharein  an Spitzentagen. „Aber den Verkehr haben wir organisatorisch im Griff“, versichert Bürgermeister Hubert Zinner. „Wir haben Parkplätze mit Einweisern, auf den Parkplätzen haben wir auch Toiletten gebaut.“ Bus-Unternehmer kennen die beengte Lage sowie die  gastronomischen Kapazitäten und melden ihr  Kommen freiwillig an.

In Salzburg würde Freiwilligkeit nicht mehr reichen. 50.000 Reisebusse pro Jahr, 6,5 Millionen Tagestouristen und weitere 1,7 Millionen, die in der Stadt übernachten – das ist rekordverdächtig. Sie drängen sich in der Altstadt. Um Zufahrten und Besucherströme zeitlich wie örtlich zu steuern, gilt seit 1. Juni eine Registrierungspflicht: Wer seine  Bustruppe nicht vorab online für eines der beiden Terminals meldet oder zur falschen Zeit ankommt, muss 70  Euro Strafe  zahlen. „Das System  hat die Feuertaufe bestanden“, versichert Stefan Loidl von Salzburg Tourismus. „120 bis 150 Busse werden pro Tag registriert.“ Die Kirche reagiert auch: Ab 2019  soll Eintritt für den  Dom verlangt werden.

Im oberösterreichischen Hallstatt war es  wohl die chinesische Kopie, die  mehr internationale Gäste darauf aufmerksam machte: Hoppla, das gibt’s ja auch im Original. Seither hadert die 800-Einwohner-Gemeinde  mit allzu vielen Touristen. Geschätzte 900.000 sind es pro Jahr, viele in Bussen, 16.500 waren es im Vorjahr. Nun tüftelt eine Arbeitsgruppe  an einem Konzept, um den Andrang zu bewältigen.Walter Strasser, Sprecher von Wien Tourismus,  setzt auf Ausgewogenheit zwischen Einwohnern und Touristen, beide seien Zielgruppen: „Tourismus muss lebenswert für Bewohner, liebenswert für Gäste und profitabel für Unternehmen sein.“ Rund die Hälfte der Gäste seien Wiederbesucher, ihnen sollen auch  Sehenswürdigkeiten abseits des Zentrums schmackhaft gemacht werden: „Die WU als architektonische Besonderheit oder die Heurigen in den Weinbergen bieten die Chance, Wien neu zu entdecken.“