Midi-Pyrénées: Die französische Toskana
Von Wilhelm Wurm
Samstag, früher Vormittag. Toulouse schläft noch. Es ist verdächtig ruhig, allein der Wind pfeift durch die engen Gassen. Backstein hüllt die Metropole der Region Midi-Pyrénées in Rosarot, da und dort auch verputzte Fassaden. Helle Überbleibsel aus jenen Tagen im 16. Jh., als die Pflanze Färberwaid reichlich blaue Pastell-Farbe über Toulouse gebracht und die südwestfranzösische Provinz gern ein bisserl Paris in ihre Städte gezaubert hat.
Der einstige Reichtum des "Blaugolds" ist bis auf ein paar putzige Souvenirläden und hellblau gestrichene Haustüren, die angeblich Insekten abhalten, vergilbt. Heute glänzt Toulouse an der Peripherie als Kapitale der internationalen Flugzeugindustrie, während die Altstadt historischen Charme versprüht – mit charakteristischer Architektur, Patina statt Hochglanz und schlichter Eleganz.
Der Besucher erlebt und genießt die Stadt als Mosaik aus Renaissance-Türmchen mit original nachgebauten griechischen Säulen, aus Palästen (wie dem Bemberg-Museum), Herrenhöfen und Arkaden. Schlendert durch blitzsaubere Zeilen mit Hausmann-Stil, Fachwerk und schmiedeeisernen Balkonen. Schaut in Atelier-ähnlichen Geschäften vorbei. Richtet den Blick auf die mächtigen Brücken über der Garonne. Und spürt plötzlich, dass Toulouse erwacht ist.
Auf dem großen Platz vor dem Capitolium im Herzen der Stadt herrscht Markttrubel. Ein geradezu sanfter im Vergleich zum berühmten Marché Victor Hugo. Da sieht, riecht und schmeckt man das sprichwörtliche "Leben wie Gott in Frankreich" in üppigster Darbietung. Die Standler preisen ihre Wurst als beste der Welt und können nicht verstehen, dass Stopfentenleber auch einen gar nicht guten Beigeschmack haben kann.
Der kleine Prinz
Am Eck zum Capitolium-Platz fügt sich das Grand Balcon Hotel ins Ensemble. Unspektakulär, aber voll Nostalgie. Denn dort kann man ab 150 € jenes Zimmer buchen, in dem einst Antoine de Saint-Exupéry – Autor der weltbekannten Märchenerzählung "Der kleine Prinz" – geschlafen hat, wenn er als Pilot eines Aéropostale-Fliegers in Toulouse genächtigt hat. Spätestens jetzt landet der Stadtführer bei jener Flugzeug-Geschichte, die mit den Herren Pierre-Georges Latécoère und Émile Dewoitine 1917 begonnen, legendäre Modelle wie Caravelle und Concorde geschaffen hat und vorläufig beim Airbus A 380 endet.
Der Stadtweg indes führt schnurstracks zurück ins frühe 13. Jh., z. B. in das Benediktinerkloster. Außen ein beeindruckend schlichter roter Backstein-Koloss mit achteckigem Turm ohne Spitzen, innen ein Meisterwerk an Gotik mit zwei Schiffen und gigantischen Säulen, die gleichsam in Palmen enden. Messen finden nicht mehr statt, dafür klassische Konzerte.
"Wer Toulouse begreifen will, braucht intellektuelles und religiöses Interesse", sagt der Guide auf dem Weg zur Basilika Saint-Sernin, der größten romanischen Kirche in Frankreich, die seit je her wichtige Pilgerstation mit Krankenhaus auf dem (Um-)Weg nach Santiago de Compostela war. Auch ihre Geschichte ist geprägt von den Glaubenskämpfen zwischen Katholiken und Protestanten, von den Intrigen zwischen den französischen Königen in Paris und den Grafen von Toulouse, die gern ihr eigenes provinzielles Süppchen gekocht haben.
Star-Köche
Hinaus aus Toulouse auf Platanen gesäumten Alleen Richtung Albi. Zypressen und Pinien dekorieren das sanft-hügelige Agrarland mit sauber bestellten Feldern, Weinstöcken und Obstplantagen. Großzügig verstreut die typischen Steinvillen mit prächtigen Gärten, Bauernhöfe, Herrenhäuser und Taubenschläge. Briten haben vieles aufgekauft in der "kleinen Toskana von Frankreich", wo auf Hügelplateaus pittoreske Dörfer wie Cordes-sur-Ciel, Puycelsi oder Cahuzac-sur-Vère mit unerwartetem Lifestyle hinter liebevoll restaurierten Steinmauern locken. Wie das Château de Salettes mit seiner kreativen Wohnkultur und raffinierten Küche. Dort verwöhnt einer der 24 Michelin-Starköche im Midi-Pyrénées: Apfel- & Spargelcreme mit Wachtelei, Consommé von Heringsrogen mit Tintenfisch, Hummer, Kalb mit Saisongemüse, Ruccola-Eis mit Schokopralinen. Dazu Weine der Reben rote Duras und weiße Mauzac aus dem Anbaugebiet Gaillac, Weinbrand aus der Grafschaft Armagnac, Café.
In der idyllischen Ebene der berühmte Canal du Midi. Großes Prestigeobjekt von Sonnenkönig Ludwig XIV. zwischen Toulouse und Mittelmeer mit Schleusen, Brücken und Aquädukten – der Traum aller "Hausbootler" mit Weltkulturerbe-Zertifikat. Ein solches hat auch Albi im Département Tarn, eine Stadt mit südlicher Atmosphäre.
Der Stadtführer drängt zur Kathedrale Sainte-Cécile. An ihr kommt keiner vorbei. Außen ein massives rotes Ungetüm, eine Gotik-Festung mit sechs Meter dicken Backstein-Mauern, bizarrem Eingangstor und Turm ohne Spitze. Ganz anders wie die großen nordfranzösischen Kathedralen in Paris oder Reims. Innen Renaissance-Fresken, Gewölbe, Gemälde.
Solche, allerdings mit sehr profanen Motiven, hängen auch zwei Pforten weiter, im Museum des Henri de Toulouse-Lautrec. Pferde, Bordelle und Freudenmädchen sind sein Thema. Für die Stadt Toulouse anrüchig genug, die Meisterwerke nicht auszustellen. Also hat Albi, die Geburtsstadt des Malers mit den kurzen Beinen, ihren großen Sohn zurückgeholt und gut ein Drittel seines künstlerischen Erbes ausgerechnet an die Wände des bischöflichen Palais gehängt. Albi ist eben nicht Toulouse.
Und Käse ist nicht Käse. Also auf ins Département Aveyron. Beim Dorf Roquefort-sur-Soulzon riecht’s nicht nur nach Blauschimmel, dort reift er auch. In den Kalk-Plateau-Höhlen "bläst" der Wind Schafsmilch zum berühmten Roquefort. Einer jener Klassiker, der französisches Klischee vollmundig bedient. Wie die ganze famose Midi-Pyrénées.
Der Airbus bringt Toulouse ganz nah
Besondere Anziehungskraft im Grenzgebirge zu Spanien haben Lourdes, weltberühmter Wallfahrtsort und Pilgerstätte, sowie das Mini-Fürstentum Andorra, das zwar keine echte Steueroase mehr ist, wo man aber immer noch günstig einkaufen kann – und dann von Steuerfahndern streng kontrolliert wird.
Wo immer die Reise auch hinführt: in Toulouse ist der Besuch des Flugzeugwerkes am Flughafen Pflicht. Am Airbus, dem großen europäischen Widerpart von US-Boeing, gibt’s kein Vorbeikommen. Auf Voranmeldung werden Führungen auch in Deutsch gehalten, sonst ist Englisch Standard. Beim Eintritt ist Pass bzw. Personalausweis vorzulegen. Flieger-Nostalgie mit kuriosem Touch bietet der benachbarte "Alte Flügel" – ein Freiluft-Parkplatz für ausrangierte Typen aus Zivil- und Militärluftfahrt, u. a. mit dem einst kultigen Überschallflugzeug Concorde, deren Vorgänger Caravelle, aber auch mit österreichischen Bundesheer-Draken. Eintritt 5 €.