Leben/Reise

Die stolze Insel: Warum Korsika nicht Frankreich ist

Monsieur Orsoni ist stolz, wie fast alle Korsen, Kettenraucher und schon erschreckend ehrlich. „Wenn es nach mir geht, brauchen wir im Sommer nicht noch mehr Touristen“, sagt er und zieht an seiner 18. Zigarette seit Beginn des Mittagessens. Bemerkenswert dabei: Monsieur Orsoni arbeitet für das korsische Fremdenverkehrsamt. Drei Millionen Touristen reisen pro Jahr auf die Insel, 2,8 Millionen davon zwischen Mai und Oktober, die überwiegende Mehrheit von Mitte Juli bis Ende August. „Da sind dann die meisten Hotels voll. Die Preise sind doppelt oder dreifach so hoch wie sonst, und auf den Straßen und Stränden ist die Hölle los.“ Doch das Schlimmste: „Im Hochsommer wird Korsika von den Franzosen überschwemmt.“

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Rivalität

Denn Korsika und Frankreich, das passt nur bedingt zueinander. 1769 besiegten die Franzosen die korsischen Truppen, seitdem ist Korsika französisches Staatsgebiet. Doch behalten haben die Korsen ihren Stolz und ihr Streben nach Autonomie. Vorbei sind zwar die Zeiten, als der Schriftzug der korsischen Befreiungsbewegung FLNC an Wänden und Brücken prangte, doch das Selbstverständnis der Korsen bringt Orsoni auf den Punkt: „Korsika ist ein Teil von Frankreich, aber wir sind keine Franzosen. Wir sind Korsen.“

300.000 von ihnen leben auf der Insel. Nach dem Wahnsinn des Sommers kommen sie wieder zu sich, es kehrt Ruhe ein. Zu dieser Zeit präsentiert sich Korsika reizvoller, angenehmer, schlichtweg sympathischer. Am bekömmlichsten ist das Klima im Mai, wenn die Insel erblüht, die Temperatur auf dem Strand noch auszuhalten ist – und auf den Bergen über 1500 Meter noch viel Schnee liegt. Oder im September und Oktober, wenn das Meer noch angenehm warm ist und das Tempo auf der Insel allmählich gemächlicher wird. An der Westküste brandet das Meer an schroffe Felsküsten, im Osten liegen Familien an den breiten Sandstränden. Diese sind überall frei zugänglich, große Hotelkomplexe sind selten. Wer Korsika näherkommen will, sollte sich in einem der vielen privaten Hotels niederlassen. „Wer in einem korsisch-geführten Hotel wohnt, lernt die Familie kennen“, sagt Orsoni. „Aber in einem internationalen Hotel lernt man den Manager kennen.“ Und das sei zumeist ein Festland-Franzose. Pfui!

Berge

Doch Urlaub auf Korsika ist weit mehr als nur Strand und Sonne. „Wir Korsen sind absolut kein Volk der Fischer und Segler “, sagt Orsoni. „Wir kommen aus den Bergen.“ Tatsächlich liegen im Gegensatz zu anderen Inseln die ältesten Dörfer im Landesinneren. Die Küsten waren stets gefährlich. Piraten wüteten ebenso wie Krankheiten. Die Malaria etwa wurde erst 1942 ausgerottet, durch den massiven Einsatz des Insektizits DTT der Amerikaner. In den Bergen hingen fühlten sich die Menschen sicher.

Tief im Landesinneren erheben sich mehr als 50 2000er. Hier, weitab von den Touristen an der Küste, schöpft die Natur ihre Kraft. Von den Schneefeldern plätschert noch im Juni das Schmelzwasser, über Wasserfälle hinunter in die Täler. „So viel Wasser hat keine andere Mittelmeerinsel“, sagt Orsoni. „Das Wasser hier ist wertvoll wie Gold.“ Der Überschuss wird an das benachbarte Sardinien verkauft. 55 Prozent der Inselfläche sind Naturschutzgebiet.

Besonders die Wanderer zieht es in die Berge, 20.000 marschieren Jahr für Jahr über den Fernweg GR-20, der in Nord-Süd-Richtung über die Berge quer über die Insel führt. Gut trainierte, trittfeste Bergsteiger absolvieren die 170 Kilometer in zwei Wochen. Abenteurer gehen Raften oder in den Hochseil-Kletterpark. Manche verbringen sogar ihren Skiurlaub auf Korsika in über 2000 Meter – mit Blick auf das Meer.

Kurvenorgie

Perfekt ist die Topografie der Insel für Motorradfahrer. Schmale Straßen winden sich in endlosen engen Kurven um die Berge; die Reifen finden viel Grip auf dem frischen Asphalt, der vor wenigen Monaten extra für die Profi-Radrennfahrer der Tour de France aufgetragen wurde, die Ende Juni erstmals drei Etappen auf der Insel abspulten.

Autobahnen? Fehlanzeige. Auch die bedeutendste Stadt im Landesinneren ist nur über schmale Landstraßen zu erreichen: Corte, die alte Hauptstadt Korsikas. Die Zitadelle, 1419 erbaut, thront auf einem Felsen über der Stadt. Wenige Höhenmeter darunter flanieren heute die Touristen durch die malerischen Gassen, Studenten sitzen in den Cafés. 1755 machte Pascal Paoli Corte zur Hauptstadt Korsikas. Der korsische Freiheitskämpfer und Nationalheld erarbeitete mit Napoleons Vater eine korsische Verfassung aus und gründete die Universität in Corte. Sie blieb die einzige auf der Insel.

Zurück im Nordwesten: Hoch oben über der Küstenstadt Calvi pickt der revitalisierte Ort Pigna am Berghang. Viel Geld wurde in die Hand genommen, um aus verfallenen Häusern und Ruinen einen pittoresken Künstlerort zu schaffen. Durch die offenen Türen erspäht man Tischler, sieht Maler oder hört Musiker. Und man riecht die unvergleichlichen Aromen von Korsikas Küche, die den Hang herunterkriechen. Oben kocht Olympe Ricco in ihrem Restaurant U Palazzu Pigna. Das Lokal ist liebevoll dekoriert mit allerlei Raritäten und Ramsch, von alten Malereien bis zur Nähmaschine. Beim Aperitif auf der Terrasse schweift der Blick über die Berge bis zum Meer, voller Charme und Enthusiasmus präsentiert die Chefin persönlich ihre kulinarischen Ideen. Sie schwärmt von Kreationen aus Erdäpfelpüree mit Trüffeln, von Oliven mit Sardellen, Risotto mit Steinpilzen, Fisch und Meeresfrüchten – und natürlich vom passenden Wein.

Teuer

Das Preisniveau ist hoch, wie überall in Korsika. 20 Euro für eine Hauptspeise, 7 Euro für ein großes Bier. Doch im Lokal von Olympe Ricco sitzt die Geldbörse locker. Die enthusiastische Mitt-Dreißigerin liebt ihren Job, sie lebt ihn. Ihre Jugendfreundin war Laetitia Casta, das Model, deren Vater aus Korsika kommt und die noch immer ein prächtiges Haus in der Nähe von Calvi besitzt. „Doch schon mit 13 hat Laetitia gewusst wie wunderschön sie ist. Dann hat sie ihre Nase ziemlich hoch getragen.“ Und noch schlimmer: Sie hat Karriere gemacht – ausgerechnet in Frankreich.

Auch Olympe hat Karrierepläne. Ihr Restaurant in Pigna geht Ende September an den nächsten Pächter. Der war bereit, deutlich mehr zu bezahlen. Samt Mann, den zwei Kindern und dem Koch aus Barcelona bricht sie dann nach Los Angeles auf, wo sie ihr neues korsisches Lokal „Napoleon et Josephine“ eröffnen wird. Entsetzt schimpft sie über die kulinarischen Erwartungen der Amerikaner: Riesige Portionen und alles getunkt in Sauce oder Ketchup. „Grässlich! Aber wie ich koche, lasse ich mir von niemand vorschreiben“, sagt sie. Nicht von Amerikanern. Und schon gar nicht von den Franzosen.