"Wir geben nicht auf, denn es gibt Hoffnung"
Von Birgit Braunrath
Ein Spätsommertag in Hamburg. Kate und Gerry McCann schauen Arm in Arm auf die Alster. Nach dem Interview wollen sie joggen gehen. Auf den ersten Blick wirken sie wie ein Liebespaar, das die Hände nicht voneinander lassen kann. Während des gesamten Interviews werden sie einander nicht loslassen, stets Körperkontakt halten, so, als stütze einer den anderen, abwechselnd.
Die beiden Briten, deren Tochter 2007 während eines Familienurlaubs in Portugal verschwunden ist, sind nach Deutschland gekommen, um Kates Buch vorzustellen, das dieser Tage auf Deutsch erscheint und mit dessen Verkaufserlös die Suche nach Tochter Madeleine fortgesetzt werden soll. Titel: "Madeleine. Das Verschwinden unserer Tochter und die lange Suche nach ihr" (Verlag Lübbe). In Großbritannien verkaufte sich das Buch bisher mehr als 300.000-mal. Und der Druck der Öffentlichkeit wurde so groß, dass Scotland Yard bekannt gab, den Fall neu aufzurollen.
KURIER: Kate, Sie schreiben in Ihrem Buch: "Wir haben inzwischen begriffen, dass Madeleines Entführung für alle Eltern schwer zu ertragen ist." Warum ist das so?
Kate McCann: Nichts macht Menschen verletzlicher, als Eltern zu werden. Alle haben Angst davor, ihr Kind aus den Augen zu verlieren, und sei es nur für Sekunden.
Sie haben jahrelang vergeblich versucht, schwanger zu werden und sich dann für die künstliche Befruchtung entschieden. Sie mussten einiges durchmachen, bis Sie schließlich Madeleine bekamen. Hängt man noch stärker an seinem Kind, wenn man so darum gekämpft hat?
Gerry McCann: Kinder sind so oder so das Wertvollste, was man haben kann. Aber bei uns war die Freude umso größer, weil wir durch so schwere Zeit gegangen sind.
Sie nennen Ihre Tochter "Madeleine". Die Welt kennt sie als "Maddie". Warum?
Kate: Gute Frage. Ich glaube, das passt besser in eine Schlagzeile, weil es kurz ist (lächelt). Madeleine wäre die Erste, die protestieren würde: "Ich bin nicht Maddie, ich bin Madeleine!"
Gerry: Als sie ganz klein war, wollte ich sie Maddie nennen, aber sie mochte das nicht. Sie war Madeleine.
Sie beziehen Sie sich oft auf Fälle wie Natascha Kampusch oder Jaycee Dugard, die 18 Jahre nach ihrer Entführung gefunden wurde. Die beiden waren älter als Madeleine, als sie entführt wurden, sie wussten, wer sie waren. Glauben Sie, dass sich Madeleine, wenn sie irgendwo lebt, an ihre Familie erinnert?
Gerry: Ja. Ich wäre überrascht, wenn sie sich nach der liebevollen und glücklichen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, nicht an uns erinnern würde. Wir fürchten nur, dass sie nicht weiß, dass sie vermisst wird. Vielleicht hat ihr jemand gesagt: "Deine Eltern haben mich gebeten, auf dich aufzupassen, sie hatten einen Unfall ..." Es gibt so viele Szenarien, keines ist gut, aber viele sind sehr, sehr schrecklich.
Kate: Mit all diesen Vorstellungen habe ich mich jahrelang verrückt gemacht. Mittlerweile glaube ich, dass es ihr, falls sie von jemandem adoptiert wurde, gut geht. Ich lese gerade Natascha Kampuschs Buch, auch das Buch von Jaycee Dugard habe ich gelesen. Mich fasziniert, wie diese Kinder überleben, welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln . Ihre Geschichten geben mir Hoffnung.
Sie, Kate, sprechen immer wieder von "einer herzzerbrechende Erfahrung". Gerry, Sie sind Kardiologe: Können traumatische Erlebnisse wie das Verschwinden eines Kindes tatsächlich das Herz eines Menschen schädigen?
Gerry: Das wird in Medizinerkreisen kontroversiell gesehen. Fest steht, dass Stress eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Herzproblemen spielt.
Kate: Im Alltag verwenden wir beiläufig Ausdrücke wie Herzschmerz, schweren Herzens oder herzzerreißend. Ich kann nur sagen, diese Begriffe werden sehr konkret in solchen Situationen. Ich spürte buchstäblich den Herzschmerz, das war greifbar.
Gerry, Sie haben in einem Interview gesagt: "Andere Familien wären daran zerbrochen." Warum nicht Ihre?
Gerry: Ich habe viel darüber nachgedacht. Und ich glaube, da spielen einige Faktoren mit. Erst einmal die vorangegangene Lebenserfahrung. Wir hatten bereits gemeinsam schwere Zeiten durchgestanden. Ich glaube auch, dass unsere Beziehung nur überlebt hat, weil wir offen und gut miteinander kommunizieren. Und ohne die Unterstützung unserer Familien und Freunde hätten wir es nicht geschafft.
Kate: Es klingt so seltsam, wenn ich sage, wir haben Glück. Unsere Situation ist weit davon entfernt. Aber wir haben das Glück, eine starke, gute Beziehung zu haben, unsere Familien zu haben, unser Netzwerk. Das ist eine Art von Glück, die wir sehr zu schätzen wissen.
Sie sagen, gute Kommunikation habe Ihre Beziehung gerettet. Können Sie tatsächlich, wenn Sie zu zweit sind, immer noch darüber reden?
Gerry: Ja, es wird sogar leichter. Am schwierigsten war es, als ich selbst kaum den Kopf über Wasser halten konnte, Kate ging es noch schlechter, und ich konnte sie nicht stützen. Es war, als müsste ich jede kleinste Ressource nutzen, um selbst zu überleben. Was uns objektiv am meisten geholfen hat, war die therapeutische Beratung.
Sie haben sich auch mit Psychologen beraten, wie Sie Ihren jüngeren Kindern, den Zwillingen Sean und Amelie, die damals zwei Jahre alt waren, erklären können, dass ihre Schwester weg ist ...
Gerry: ... ja, sie waren noch sehr klein, aber sie wussten von Anfang an, dass Madeleine entführt wurde, dass es böse ist, Kinder zu rauben, und dass wir nach ihr suchen. Wir reden sehr offen zu Hause. Keine Frage ist tabu. Sie wissen auch, das Madeleine tot sein könnte.
Dennoch lassen Sie es bis heute zu, dass Sean und Amelie Süßigkeiten für Madeleine aufheben oder ihr einen Platz auf dem Karussell freihalten?
Kate: Ja, die Kinder sind sehr logisch, pragmatisch.
Gerry: Einmal kam Sean und meinte: "Jemand hat gesagt, dass Madeleine erschossen wurde. Woher will er das wissen? Er war nicht dabei!" Damit war die Sache für ihn erledigt. Und manchmal sagen sie: "Wenn Madeleine heimkommt ..." Einfach so. Das trifft uns. Aber genau betrachtet, gibt es keinen Grund, warum es nicht sein könnte. Also lassen wir sie Süßigkeiten für die große Schwester aufheben.
Etwa 100 Tage nach dem Verschwinden von Madeleine gerieten Sie selbst unter Verdacht. Die portugiesische Polizei behauptete, Madeleine wäre tot und Sie hätten ihre Leiche verschwinden lassen, hatte dafür aber keine Beweise. Wie ist es Ihnen damals gegangen?
Gerry: Du bist müde, stehst unter extremem Druck, bist im Ausland, verstehst die Sprache nicht, es ist drei Uhr Früh, du wirst verdächtigt, deinem eigenen Kind etwas angetan zu haben, das ist der absolute Tiefpunkt. Du siehst keinen Ausweg, fühlst dich ausgeliefert. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, wie es Menschen geben kann, die ein Verbrechen gestehen, die sie nie begangen haben. Das Geständnis erscheint wie ein Notausgang. Zum Glück hat Kate sehr aggressiv und kämpferisch reagiert. Ich war in dieser Nacht ein gebrochener Mann.
Kate: Während wir alles daransetzten, Madeleine zu finden, versuchte die Polizei der Welt weiszumachen, sie sei tot. Zuerst hatte ich das Gefühl, in einer Abwärtsspirale gefangen zu sein. Doch dann spürte ich eine immense Wut in mir hochsteigen und sagte: "Wir kämpfen! So hart wir kämpfen können! Wir geben nicht auf."
Was raten Sie Eltern, deren Kinder vermisst werden?
Gerry: Wir haben eine Menge Dinge gelernt. Erstens: Was immer du tust, du wirst kritisiert. Wichtig ist daher, sein Ziel zu kennen und sich nie vom Weg abbringen zu lassen von Menschen, die andere Ziele verfolgen.
Kate: Wir geben nicht auf. Denn es gibt Hoffnung. Andere Fälle zeigen das.
Kate, Ihr Gesicht hat sich stark verändert, verglichen mit früheren Bildern aus Ihrem Buch (Gerry lacht zu ersten Mal während des Interviews laut auf) ...
Kate: Danke! (Lacht ebenfalls.)
Gibt es wieder Momente, in denen Sie fröhlich sind? In welchen Situationen können Sie lachen?
Gerry: Das, was Sie gerade gesagt haben. Das hat uns wirklich zum Lachen gebracht. Es sind oft Kleinigkeiten.
Kate: Ich erlaube mir allmählich wieder, fröhlich zu sein. In den ersten Jahren fühlte ich mich ständig schuldig.
Gibt es eine Frage, die ich nicht gestellt habe, die Sie aber gern beantworten möchten?
Gerry: Ja, die Frage, was wir den Österreichern sagen wollen: Wenn jemand aus Österreich im April oder Mai 2007 an der Algarve war, möge er oder sie sich bitte mit uns in Verbindung setzen. Für uns zählt jeder Hinweis.
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