Schüssel: "Heute wären bei Abstimmung noch mehr für die EU"
Von Josef Votzi
KURIER: Herr Dr. Schüssel, was war Ihre erste persönliche Begegnung mit dem Thema Europa?
Wolfgang Schüssel: Mich hat die Paneuropa-Idee sehr fasziniert, die Richard Coudenhove-Kalergi entwickelt hat. Er hat sechzehn Sprachen gesprochen und hat als Privatperson ohne ein politisches Mandat versucht, die europäischen Staatsspitzen Richtung mehr Integration zu bewegen. Auch bei den katholischen Studenten, wo ich herkomme, war der europäische Gedanke sehr stark vertreten.
Die Paneuropa-Bewegung stand aber immer unter Verdacht, auf diesem Weg wieder mit der Monarchie zu liebäugeln?
Das rührt daher, dass später Otto von Habsburg Paneuropa-Präsident war. Das Projekt war aber nicht nostalgisch angelegt, sondern zukunftsorientiert. Der Monarchismus-Verdacht ist daher unbegründet. Wahr ist vielmehr, dass die Zeit für diese Idee noch nicht reif war. Heute ist sie es, Gott sei Dank.
Von welchem Europa hat der junge Wolfgang Schüssel geträumt: Eines, das zentral regiert ist?
Nein, eher so wie es heute ist. Ein Zusammenschluss von Staaten, der bereit ist, von der Handels- bis zur Sicherheitspolitik vieles gemeinsam zu regeln, alles andere aber den Nationalstaaten subsidiär zu überlassen. Dieses Konzept ist nach wie vor sehr modern, alles was zu zentralistisch ist, zerfällt irgendwann. Das haben wir in der Geschichte schon oft erlebt.
Rund um den Beitritts-Antrag 1989 gab es auch in der ÖVP noch große Bedenken gegen die EU. Zurecht?
Der Europa-Gedanke wurde in der ÖVP schon von Leopold Figl, später auch vom unterschätzten Josef Klaus sehr gepflegt. Er wurde zum richtigen Zeitpunkt von Alois Mock wieder aufgegriffen und von Landeshauptleuten wie Martin Purtscher aus Vorarlberg und Josef Krainer jun. aus der Steiermark sehr stark unterstützt - auch weil etwa in der Vorarlberger Textilindustrie oder der steirischen Autozulieferindustrie ohne europäische Integration zehntausende Arbeitsplätze auf dem Spiel gestanden wären.
Die meisten Bedenken gab es in der ÖVP bis zuletzt auf Seiten der Bauern?
Ich bin im April 1989 als Wirtschaftsminister in die Regierung gekommen. Da war schon klar, dass wir in die EU wollen. Offen war nur Zeitpunkt, wann wir uns darum bewerben. In der SPÖ ist es das Verdienst von Franz Vranitzky, dass er die SPÖ mitgenommen hat auf diesem Weg. In der ÖVP wollten die Bauern nicht den BigBang vom ersten Tag des Beitritts am 1.1. 1995, sondern längere Übergangsfristen. Da gab es im Vorfeld auch klare Zusagen. Das hat Kommissionspräsident Jaques Delors in den Verhandlungen ziemlich brutal vom Tisch gewischt. Das war für die Bauern schwer zu akzeptieren, dass sie bei Preisen und Produkten sofort voll unter Konkurrenz stehen. Wir haben dann mit allen Sozialpartnern gemeinsam noch in der Nacht nach Delors striktem Nein den sogenannten Österreich-Vertrag verhandelt, der bis heute gilt, in dem den Landwirten Leistungen für die Umwelt- und die Landschaftspflege abgegolten werden.
Manche haben die harte Haltung Delors auch als letzten Versuch interpretiert, einen Voll-Beitritt Österreichs zur EU zu verhindern.
In Frankreich gab es große Vorhalte, dass mit Österreich nach der Wiedervereinigung der Deutschen diese dank eines „dritten deutschen Staates“ noch mehr Gewicht erhalten. Delors hat im Namen der EU-Kommission darauf bestanden, dass es keine Übergangsfristen gibt. Wahr ist aber, dass Frankreich nie eine Freude mit dem Beitritt Österreichs gehabt haben. Bei den Schlussverhandlungen gab es zwei leere Stühle, weil die Franzosen nicht daran teilgenommen hatten. Der damalige Staatspräsident Francois Mitterand war erst nach massiven Interventionen des deutschen Kanzlers Helmut Kohl bereit, – wörtlich zitiert – „den Beitritt des dritten deutschen Staates“ zu akzeptieren. Eine größere Beleidigung als diese Bezeichnung gibt es für uns ja nicht. Und das haben wir auch bis zum Abschluss der Verhandlungen gespürt. Es war alles von den Franzosen eindeutig bewusst so angelegt, dass wir spüren sollten, dass wir nicht willkommen sind. Das hat sich später fortgesetzt – bis ins Jahr 2000 bei Bildung der ersten schwarz-blauen Regierung.
Wie oft standen die Verhandlungen auf Abbruch und Heimfahren?
Es hat Situationen gegeben, wo die Emotionen eine Rolle gespielt haben. Der griechische Europaminister Pangalos war als Vorsitzführender - um es vorsichtig zu sagen - ein verhaltensauffälliger Verhandlungspartner, später ist er vor Freundlichkeit nicht wiederzuerkennen gewesen.
Alois Mock wollte einmal abbrechen und heimfahren. Erst eine Order des ÖVP-Parteichefs Erhard Busek habe ihn daran gehindert?
Er war manchmal vom EU-Verhandlungsleiter Pangalos und einigen Mitgliedern sehr enttäuscht. Das Heimfahren-wollen war in der Emotion angedeutet, aber ich glaube nicht, dass das ernst gemeint war. Erhard Busek hat eine sehr wichtige Rolle von Wien aus gespielt, aber er war bei den Verhandlungen nicht dabei. Die kritischen Situationen waren eher in der Nacht und die sind nicht nach Wien gedrungen. Aber bleibend wichtig war: Es war eine positiv verschworene Gemeinschaft, die etwas Wichtiges für unser Land erreichen wollte. Das hat auch bis zur Volksabstimmung gewirkt, weil wir alle an einem Strang gezogen haben. Eine Ja-Mehrheit von Zwei-Drittel gab es in keinem anderen Land.
Wie würde heute eine EU-Volksabstimmung ausgehen?
Ich glaube, mit deutlicher Mehrheit von 70, 80 Prozent.
Sie glauben im Ernst an ein noch besseres Pro-EU-Ergebnis als 1994?
Ja, ich glaube, eine Abstimmung für die Beibehaltung der Mitgliedschaft würde noch besser ausgehen.
Warum gelingt es bei EU-Wahlen bis heute nicht einmal die Hälfte der Wähler dazu zu motivieren, alle vier Jahre ihre Stimme abzugeben?
Damals ging es um Dabei- oder Nicht-Dabei-sein. Das ist ein bisschen wie beim Brexit. Bei EU-Wahlen geht es nicht um eine derart existenzielle Frage, sondern darum, ob die eine oder andere Partei mit 5 oder 6 Mandaten in einem EU-Parlament mit mehr als 700 Abgeordneten vertreten ist. Das hat keine besondere Dramatik. Wir sollten uns dennoch bemühen, eine positive Erzählung über die EU zu propagieren. Wir haben heute sicher fünf- bis sechshunderttausend Arbeitsplätze mehr als vor dem Beitritt. Unser Wohlstand ist massiv gestiegen.
Würden EU-weite Kandidaten helfen, um den Wahlkampf und damit auch die Beteiligung zu befeuern?
Solche Versuche hat es schon gegeben. Doch die Wähler wollen einen Bezug zu ihren Abgeordneten. Daher muss ein Schuss nationaler Interessen mit der geopolitischen Idee der EU verknüpft werden.
Alles in allem wird man sich mit niedriger Wahlbeteiligung und Interessen für EU-Themen abfinden müssen?
Nein, wir sollten noch deutlicher erklären, worum es geht: Vor Gründung der EU hat es in den letzten 300 Jahren 123 Kriege zwischen den heutigen EU-Mitgliedern gegeben. Ich bin Jahrgang 1945, meine Mutter ist hochschwanger mit mir nach einem Bombardement drei Tage im Luftschutzkeller gelegen, bis sie ausgegraben wurde. Da ging es noch um Krieg und Frieden. Wir haben jetzt die längste Friedensepoche, die wir je erlebt haben. Den Jungen zu erzählen, dass das nicht selbstverständlich ist, ist wichtiger denn je. Wer nicht Stabilität und Frieden exportiert, wird einmal Instabilität, Flüchtlinge oder Kriegsfolgen importieren müssen.
Braucht es dafür nicht die immer wieder geforderten Mehrheitsentscheidungen statt des Einstimmigkeitsgebots etwa für endlich klarere und raschere EU-Außenpolitik?
Bei Mehrheitsentscheidungen bin ich skeptisch. Man könnte mit einigen gleichgesinnten Ländern vorangehen.
Ein Plädoyer für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten?
Es gibt ja vom Euro bis Schengen schon jetzt 25 Politikfelder, wo nicht alle dabei sind. Wenn nicht alle etwas gemeinsam wollen, warum sollten etwa in der Afrika-Politik oder in Sachen Digitaler Binnenmarkt nicht ein paar Länder etwas rascher und intensiver vorangehen können? Es sollte aber offen für alle bleiben, gleich oder auch erst später mitzumachen. EU-Kommission und Parlament sollten in jedem Fall eingebunden bleiben.
Ein Fall für die durch Macron und Merkel wiederbelebte Achse Deutschland-Frankreich?
Ja, wenn Sie so wollen. Aber Österreich sollte in dieser Kerngruppe immer mit dabei sein.
Kritiker sehen Österreich aber bereits mehr bei den Integrations-Bremsern rund um die Visegrad-Gruppe.
Die Gruppe hat sich rund um den gemeinsamen Beitritt als solche gebildet. Inhaltlich gibt es in vielen Fragen aber oft sehr unterschiedliche Meinungen.
Warum hat sich der Geist der „verschworenen Gemeinschaft in Brüssel“ so rasch wieder verflüchtigt und war 14 Monate nach der regulären Nationalratswahl im Herbst 1994 mit einem massiven Regierungskrach samt Neuwahl endgültig dahin?
Das Problem war damals, dass 1995, als ich als Obmann die Führung der ÖVP auch in der Regierung übernommen habe und die bereits vereinbarten Vorbereitungen auf den Euro notwendig wurden, das Konzept des SPÖ-Finanzministers Andreas Staribacher unannehmbar war. Das war eine reine Erhöhung von Steuereinnahmen und Lohnnebenkosten, um die Maastricht-Kriterien beim Budget zu erfüllen. Das hätte dem Land schweren Schaden zugefügt. Wir haben nur leicht dazugewonnen. Die SPÖ hat mit dem berühmten Pensionistenbrief mehr dazugewonnen. Nach den Wahlen ist dann aber genau das gemacht worden, was wir vorgeschlagen hatten. Hätte die SPÖ gleich zugestimmt, hätten wir uns die Neuwahlen erspart.
Sie sagen damit: Weil die SPÖ aus dem gemeinsamen Geist von Brüssel ausgestiegen ist, konnten sie auch nicht anders?
Das ist jetzt Ihre Zuspitzung. Faktum ist, dass es in der SPÖ einen massiven Druck aus ÖGB und AK gab, die Budgetsanierung nicht auf der Ausgaben-, sondern auf der Einnahmenseite via Steuern zu vollziehen. Am Ende hat halt die Einsicht gesiegt. Wir waren die einzig möglichen Koalitionspartner. Es war das Verdienst von Dr. Vranitzky durchzusetzen, dass unser Weg der richtigere ist - und er hat sich auch bewährt.
1994 wurde die EU-Abstimmung mit dem genialen Slogan statt „Gemeinsam statt einsam“ erfolgreich bestritten. Mit welchem Slogan könnten 25 Jahre danach mehr Menschen zu den EU-Wahlen bewegt werden?
„Gemeinsam statt einsam“ ist nach wie vor aktuell und trifft genau das, worum es geht. Ich arbeitete während meiner EU-Präsidentschaft mit dem Slogan „Ein Europa, das schützt und nützt“. Jetzt hat die Regierung „Ein Europa, das schützt“ gewählt. Ich denke, dass beide Aussagen, also wenn man neben den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen auch die sozialen und umweltpolitischen Aspekte mitdenkt, sehr gut passen.