Politik/Inland

Wien wirft Mikl-Leitner Versagen vor

Peter Hacker, Geschäftsführer des "Fonds Soziales Wien" ist seit Anfang Juli Chefkoordinator für das Flüchtlingswesen in Wien. Im KURIER-Interview übt er massive Kritik am Innenministerium.

KURIER: Das Erstaufnahmelager Traiskirchen ist mit rund 4000 Menschen hoffnungslos überlastet – viele Menschen schlafen im Freien auf dem Boden, auch Kinder. Die Emotionen kochen bereits über. Trotzdem überlegt Innenministerin Johanna Mikl-Leitner niedrigere Standards bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Hat das Ministerium die Lage nicht mehr unter Kontrolle?

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Hacker:Es schaut zumindest so aus. Die Situation in Traiskirchen ist ja nicht überraschend – wir warnen seit Jahren vor dieser Entwicklung. Es ist zum Fremdschämen. Die Länder haben allein im letzten Jahr 15.000 Quartiere geschaffen. Das Hauptproblem ist aber nicht die Zahl der Flüchtlinge, die ins System hereinkommen. Das Hauptproblem ist, dass die Abklärung, wer im Land bleiben darf, zu lange dauert. Diese Phase der Grundversorgung sollte maximal ein Jahr dauern. Aber davon sind wir weit entfernt.

Beim Asylgipfel im Juni wurden 6500 zusätzliche Quartierplätze vereinbart. 3500 fehlen aber noch. Wien und NÖ übererfüllen ihre Quoten, andere Länder hinken hinterher. Warum?
Einerseits gibt es in der Bevölkerung eine riesige Hilfsbereitschaft, Flüchtlingen zu helfen. In kleinen Gemeinden ist das nicht anders als in der Millionenstadt Wien. Aber man hat gelernt, dass man sich auf Vereinbarungen mit dem Innenministerium nicht verlassen kann. Aktionen, wie die am Semmering haben das Vertrauen in die Handschlagqualität des Ministeriums dramatisch beschädigt (im obersteirischen Steinhaus, das von sich aus ein paar Dutzend Flüchtlinge unterbringen wollte, adaptierte das Ministerium ohne Rücksprache mit der Gemeinde ein Hotel als Asylheim und brachte dort 150 Menschen unter; Anm.). Da gehen die Rollläden runter. In dieser Situation wäre es wichtig, die Ängste nicht zu verstärken, sondern Relationen zu kommunizieren: 2014 hatten wir in Österreich 30.000 Asylanträge. Dividiert durch 2500 Gemeinden erscheint die Geschichte relativ problemlos. Auch bei den heuer erwarteten 80.000 Flüchtlingen. Natürlich muss da nach Ortsgrößen gewichtet werden.

Was sind in der Flüchtlingsbetreuung Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen?
Wir brauchen ganz dringend mehr Deutsch-Kurse. Wir halten es nicht für superschlau, dass die Regierung Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten sofort in den vollen Asylstatus setzt. Natürlich müssen diese Menschen in Schutz genommen werden, das ist doch gar keine Frage. Aber es ist doch anzunehmen, dass sie nach dem Krieg zurückkehren und ihre Heimat wieder aufbauen wollen. Daher wären unterschiedliche Strategien für Bürgerkriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte wünschenswert. Aber stattdessen hat es zwei Syrien-Aktionen gegeben, bei denen Menschen in Super-Schnellverfahren Asyl-berechtigt geworden sind. Die waren völlig unvorbereitet auf das Leben in Österreich. Sämtliche Integrationsmaßnahmen sind ausgeblieben. Wozu gibt es eigentlich einen Österreichischen Integrationsfonds?! Es ist nur zum Kopfschütteln, was dort alles nicht stattfindet. Wir brauchen eine Art „Willkommensstrategie“, um die Flüchtlinge auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei uns vorzubereiten. Die Bevölkerung erwartet zu Recht, dass sich die Menschen, die hierher kommen, nach den Spielregeln richten. Und wir brauchen ganz dringend Unterstützung für das AMS Wien, weil der Großteil der Flüchtlinge in Wien landet. Wir benötigen Initiativen zur Weiter- bzw. Umschulung von Flüchtlingen oder zur Nostrifizierung. Viele Flüchtlinge – gerade aus Syrien – können ja was, das sind nicht alles Ziegenhirten aus dem hintersten Wüsteneck. Das sind zum Teil hoch gebildete Menschen, die hier vor der Sprachbarriere stehen.

Welche Schwerpunkte haben Sie bisher als Flüchtlingskoordinator gesetzt?
Zurzeit bündeln wir die Verantwortungsbereiche. Wir versorgen Stadtschulrat, Kindergärten, Volkshochschulen und Jugendzentren mit Informationen über die Anzahl und die Herkunft der erwarteten Flüchtlinge. So können wir durch intelligente Zusammenarbeit die Vorbereitung wesentlich verbessern. Und weil das AMS mit Tausenden Flüchtlingen konfrontiert ist, die keinen Buchstaben Deutsch können, weil sie innerhalb weniger Wochen den Asylstatus bekommen haben, haben wir in Kooperation mit den NGOs auch hier eine intensive Zusammenarbeit vereinbart.

Sie fordern seit Langem, die Tagsätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von 77 auf 95 Euro anzuheben. Für diesen Fall haben Sie auch 300 zusätzliche Quartiere in Wien in Aussicht gestellt? Wer bekäme das Geld eigentlich?
Zum einen würde das Geld in Mieten für Unterkünfte fließen. Der weitaus größte Teil – zwei Drittel etwa – geht aber an das Betreuungspersonal. Der Flüchtling selbst bekommt davon nur 40 Euro Taschengeld im Monat. Es geht hier um minderjährige Flüchtlinge, die zum Teil schwerst traumatisiert sind. Etwa, weil ihre Eltern vor ihren Augen erschossen wurden. Wenn wir die soweit auf die Füße stellen wollen, dass sie wieder selbstständig leben und arbeiten können und kein Geld aus dem Topf der Allgemeinheit mehr in Anspruch nehmen müssen, brauchen wir eine Betreuung durch qualifiziertes Personal. Sozialarbeiter, Pädagogen und Psychologen, die nach dem Kollektivvertrag bezahlt werden. Mir ist klar, 95 Euro 30-mal im Monat ist viel Geld. Aber uns zu unterstellen, wir wollten Flüchtlingen Geld nachschmeißen, ist dämlich. Dieses Personal ist eine gute Investition: Erstens, weil es Menschen hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Zweitens, weil es hilft, Radikalisierungen zu vermeiden. Und drittens, weil es eine sicherheitspolizeiliche Frage ist. Eine gute Grundversorgung bedeutet auch eine Senkung der Kriminalitätsrate. In Wien ist das durch eine Verzahnung von guter Polizeiarbeit und Sozialpolitik gelungen, die Zahl kleiner Diebstähle ist dramatisch gesunken.

Wie wollen Sie 300 zusätzliche Quartierplätze aufstellen?
Gemeinsam mit den NGOs und mit Privaten, die Häuser oder Räume anbieten. Die Situation in Traiskirchen ist ja nur mehr zum Genieren. Warum der Bund das Angebot Wiens nicht annimmt, versteh ich nicht. Die einzige Erklärung wäre, dass man weiter eskalieren und das Land mit der Thematik ganz narrisch machen will. Aber an die will ich nicht glauben.

Peter Hacker (52) trat 1982 in den Dienst der Stadt Wien ein. 1985 wechselte er in das Team von Bürgermeister Helmut Zilk mit den Tätigkeitsschwerpunkten Bürgeranliegen, Jugend und Soziales. Von 1992 bis 2003 war er Drogenkoordinator der Stadt. Seit 2001 ist Hacker Geschäftsführer des Fonds Soziales Wien, dem Träger der sozialen Dienstleistungen für Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf, Behinderung, für Wohnungslose und Flüchtlinge.