Chronik/Wien/Wien-Wahl 2020

Häupl obsiegt als Anti-Strache: SPÖ klar Nummer 1

1,14 Millionen Wiener Wahlberechtigte haben sich überraschend klar deklariert: Der Anti-Strache-Wahlkampf von Bürgermeister Michael Häupl ist für die SPÖ aufgegangen. Allerdings handelt es sich um Leihstimmen auf Zeit, geliehen von Grünen und Schwarzen. Das Stimmungstief der SPÖ auf Bundesebene ist damit keineswegs überwunden. Die Gefahr des weiteren Ausrinnens an Wählerzuspruch ist für die Sozialdemokraten nicht gebannt.

Die kleineren Parteien wurden im rot-blauen Lagerwahlkampf um die Flüchtlingsfrage aufgerieben. Grün vor ÖVP und Neos – lautet die neue Reihung. ÖVP-Wien-Chef Manfred Juraczka tritt zurück. Seine Partei fiel unter die Zehn-Prozent-Marke.

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Markant auch: Floridsdorf und Simmering sind nun blau eingefärbt. Dafür konnten die Roten die Innenstadt mit der zur FPÖ gewechselten Bezirksvorsteherin Ursula Stenzel erobern. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt es auch in Favoriten und Währing. Wobei im Arbeiterbezirk Favoriten die SPÖ gerade mal 0,26 Prozent vor der FPÖ liegt. Und im eigentlich schwarz dominierten Bezirk Währing könnte es auch bald einen grünen Bezirksvorsteher geben.

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Die Koalitionsfrage ist zur Stunde offen. Rot-Grün hätte weiter eine Mehrheit – auch Rot-Schwarz ist denkbar. Kaum diskutiert werden mögliche Dreier-Varianten, weil sie als instabil gelten.

Noch um 17.00 Uhr, als die 1499 Wahllokale in Wien schlossen, gingen die Meinungsforscher des SORA-Instituts von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Michael Häupl und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache aus. Auch der Einzug der Neos in den Gemeinderat war bis zu diesem Zeitpunkt unsicher.

Ab 18.00 Uhr bei der ersten Hochrechnung, mit einer Schwankungsbreite von nur noch einem Prozent, war plötzlich alles klar: Der Abstand zwischen Rot und Blau beträgt nahezu neun Prozentpunkte, das Aufatmen im roten Lager war nicht zu überhören.

Das Kuriose am Wahlergebnis in Wien ist: Die Roten büßten zwar weitere 4,8 Prozentpunkte auf 39,5 Prozent ein, dennoch wurde der Stimmenverlust wegen des Abstands zur FPÖ sofort in einen Sieg umgemünzt und entsprechend gefeiert.

Der Tenor aus roter Sicht lautet: Trotz der Flüchtlingskrise und der Ängste in der Bevölkerung vor einer nicht bewältigbaren Zahl an Asylwerbern sei es gelungen, die rechten Hetzer in die Schranken zu weisen. Bundeskanzler Werner Faymann sagte, Haltung zahlt sich aus.

Herausforderer Strache von der FPÖ konnte wenig überraschend mit den Themen "Ausländer" und "Asyl" punkten, aber eben kein "blaues Wunder" bewirken. 31,0 Prozent (plus 5,3 Prozent) lautet das vorläufige Ergebnis für die Freiheitlichen.

Neben dem Protest über die Flüchtlingspolitik konnte die FPÖ die Sorge über Verluste an Lebensqualität in Wien für sich vereinnahmen. Am unzufriedensten mit der Arbeit der Stadtregierung waren die Wähler, die im Gemeindebau leben. Zuversichtliche und zufriedene Wähler stimmten überwiegend für SPÖ und Grüne.

Die Wahlbeteiligung lag 2010 bei 67,6 Prozent, dieses Mal stieg sie auf 74 Prozent. In den Hochrechnungen enthalten ist auch eine Prognose für das erwartete Stimmverhalten jener Bürger, die ihre Stimme per Wahlkarte abgegeben haben.

SPÖ Die Freude über den ersten Platz der Roten kann ein Blick auf den Langfrist-Trend trüben. Unabhängig vom Wahlergebnis sei es "notwendig, die SPÖ auf die neuen Zeiten einzustellen", gestand Häupl ein. Dennoch ist ein scharfer parteiinterner Richtungsstreit jetzt unwahrscheinlich geworden.

Und das, obwohl Häupl an seinem historisch schlechtesten Ergebnis nur knapp vorbei schrammte. Den Vierer vorne konnte er nicht halten, aber die 39,5 Prozent sind nur eine Nuance besser als die 39,15 Prozent im Jahr 1996.

FPÖ Das Bürgermeister-Amt kann Strache wieder nicht holen, auch das Plus an Stimmen beträgt verglichen mit früheren zweistelligen Zuwächsen "nur" 5,3 Prozent. Zur Erinnerung: 14,83 Prozent schaffte die FPÖ vor zehn Jahren, bereits 25,77 waren es 2010, die FPÖ wurde klar zweitstärkste Kraft. Nun gelang mit 31 Prozent erstmals der Sprung über die 30-Prozent-Marke, doch aus der "Oktober-Revolution" wurde nichts.

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Grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou startete auf Basis von 12,64 Prozent in den Wahlsonntag. Schon 2010 bedeutet dies ein Minus von 1,99 Prozentpunkten. Nun ging es erneut abwärts – auf 11,6 Prozent. Aber die Öko-Partei, die auf eine Fortsetzung von Rot-Grün setzt, bleibt immerhin zweistellig. Und Vassilakou wird von Parteifreunden gebeten, zu bleiben.

ÖVP Die Volkspartei rutscht von einem Tief zum nächsten. 2010 lag sie mit 13,99 Prozent (-4,78 Prozent) noch klar vor den Grünen. Nun wurde das Ergebnis mit 9,2 Prozent erstmals einstellig. Die Volkspartei liegt in Wien nur noch auf dem vierten Platz, Konsequenzen auf Bundesebene sind nicht ausgeschlossen.

Neos Im Burgenland, in der Steiermark und in Oberösterreich scheiterten die Pinken am Einzug in den Landtag, jetzt gelang die Trendumkehr. Sie sitzen im Nationalrat, im Vorarlberger Landtag und nun auch im Wiener Gemeinderat. Frontfrau Beate Meinl-Reisinger ist angesichts von 6,2 Prozent überglücklich. Nach 20 Jahren ziehe erstmals wieder eine neue Kraft in den Gemeinderat ein, freute sie sich. Damals war es das LIF – heute ein Teil der Neos.