Chronik/Wien/Wien-Wahl 2020

"Eine Phase unseres politischen Systems geht zu Ende"

Die jüngsten Vorfälle lassen Schlimmes für die letzte Wiener Wahlkampf-Woche erwarten. Mit untergriffigen Mitteln wird versucht, der FPÖ noch genügend Stimmen zuzutreiben, damit sie in Wien Platz 1 erreicht. Einmal werden die Steuerzahler mit Fantasiezahlen über angebliche Asyl-Kosten geschockt, dann wieder werden einige Krankheitsfälle zu einer von den Flüchtlingen ausgehenden "Seuchengefahr" hochstilisiert. Solche Methoden erinnern an den Brunnenvergifter-Rufmord aus Zeiten, die man vergangen glaubte. Auch die Werbung der FPÖ für eine Veranstaltung ihrer staatlich geförderten Bildungswerkstatt (!) könnte dem Stil nach im Nazi-Hetzblatt Der Stürmer erschienen sein (s. nachfolgendes Foto).

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Wer hat ein Interesse, dass das Rote Wien fällt?

Logischerweise die FPÖ.

Es gibt auch in der ÖVP eine Gruppe, die sich einen Bürgermeister Heinz Christian Strache wünscht. Ihr Kalkül: Ohne Wien, das rote Herzstück, wäre die SPÖ auf das bankrotte Kärnten und das kleine, wegen Rot-Blau noch dazu umstrittene Burgenland reduziert. Die ÖVP könnte die Situation zu Neuwahlen nutzen: Eine devastierte SPÖ mit einem Spitzenkandidaten Werner Faymann und eine FPÖ ohne Aushängeschild, weil Strache als Bürgermeister in Wien gebunden wäre, wären leichte Gegner.

Die Möglichkeit, dass die FPÖ mit entsprechender Panikmache noch auf Platz 1 kommt, besteht. Alle Meinungsforscher sehen derzeit zwar die SPÖ vorne, aber die Blauen legen stetig zu, und es ist offen, ob der Vorsprung der SPÖ bis zum kommenden Sonntag reicht, dass sie als Erste durchs Ziel geht.

Auch wenn die SPÖ Wien halten kann, wird diese Wahl Österreich verändern. Genau genommen – diese Wahl als Höhepunkt und Abschluss einer Serie von spektakulären Niederlagen der Traditionsparteien SPÖ und ÖVP. "Wir erleben, wie eine Phase unseres politischen Systems zu Ende geht", sagt Politik-Professor Fritz Plasser.

Burgenland ist rot-blau.

In der Steiermark sind SP, FP und VP gleich stark.

In Oberösterreich neigt sich die ÖVP in Richtung Schwarz-Blau. Dort verfügen nicht wie gewohnt ÖVP und SPÖ, sondern neuerdings ÖVP und FPÖ über eine Verfassungs-Mehrheit.

In Wien könnten SPÖ und ÖVP erstmals in der Zweiten Republik bei Bundes- oder Landeswahlen keine gemeinsame Mehrheit mehr schaffen.

Die FPÖ wird zum Mitspieler auf dem innenpolitischen Parkett. "Wir stehen an einem Wendepunkt. Das Gewohnte wird es nicht mehr geben. Aber wohin es geht, ist noch nicht absehbar", sagt Plasser.

Das Auseinanderdriften von SPÖ und ÖVP wird auch dadurch befeuert, dass im Nukleus des rot-schwarzen Systems, in der Sozialpartnerschaft, eine Kernschmelze stattfindet. "Es ist nicht mehr nur Stillstand, es herrscht gereizte Stimmung bei den Sozialpartnern", sagt Plasser. In der Wirtschaftskammer wird dies bestätigt: "Nach vier Jahren Stagnation liegen bei vielen unserer Mitglieder die Nerven blank. In dieser Situation kommt die Gewerkschaft daher und fordert ein ganzes Bündel neuer Belastungen." Besonders empört ist die Industrie. "Die Gewerkschaft hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Es geht nicht mehr ums Umverteilen, es geht darum, ob wir unsere Standorte überhaupt noch in Österreich halten können", schildert ein Wirtschaftsvertreter die Entfremdung.

Eine dysfunktionale Sozialpartnerschaft, eine wurschtelnde Koalition, zwei schwer geschlagene Regierungsparteien – "es ist schwer vorstellbar, ob da noch was zu retten ist", meint Plasser. Doch Neuwahlen sind auch kein Ausweg, denn im Bund wäre die FPÖ derzeit sicher Erste. Plasser: "Weder Faymann noch Mitterlehner könnten die blaue Walze aufhalten."