Warum junge Türken nicht aufholen
Wenn der Wiener NMS-Direktor Christian Klar Handys seiner Schüler und Schülerinnen sieht, dann wird deutlich, in welcher Parallelwelt vieler seiner Schüler leben: "Manche Türken haben als Hintergrund ein Bild von Präsident Erdoğan. Die Schüler sind geistig nicht in Österreich angekommen. Nach dem Wochenende wissen sie, welche türkischen Mannschaften im Fußball gegeneinander gespielt haben, sie kennen aber keine einzige österreichische Mannschaft", erzählt Klar.
Zwischen 250.000 bis 300.000 Türken leben in Österreich. Nach Deutschen und Serben ist das die drittgrößte Minderheit. Für das Schulsystem stellen die Türken eine besondere Herausforderung dar: "Es gibt bei uns an der Schule einige türkische Kinder, die von Freitagmittag, wenn die Schule endet, bis Montagfrüh kein einziges Wort Deutsch sprechen oder hören", erzählt die Wiener NMS-Direktorin Andrea Walach. "Da läuft daheim auch nur das türkische Fernsehen." Ein besonderes Problem, mit dem alle Schulen zu kämpfen haben, sind die Sommerferien, bestätigt Walach wie auch Direktor Klar. "Oft ist es so, dass die Kinder nach der Sommerpause größere Sprachdefizite haben als vor dem Sommer, weil die Kinder den ganzen Sommer in der Türkei verbringen und nur türkisch sprechen."
Es ist nur ein kleiner Einblick, von dem die Direktoren berichten, und doch decken sich ihre Erfahrungen mit den Ergebnissen der Bildungstests, die immer wieder große Mängel im Bildungssystem offenlegen. PISA 2015 zeigte zum Beispiel, dass nur ein Viertel der Schüler mit Migrationshintergrund in Österreich daheim ausschließlich Deutsch spricht.
Die Bildungsexpertin Barbara Herzog-Punzenberger von der Uni Linz – ihr Forschungsschwerpunkt ist Migration und Mehrsprachigkeit – versucht das Problem zu erklären: "Die Herausforderung für die türkischen Schüler ist, dass sie von den Eltern inhaltlich nicht so viel Unterstützung bekommen, weil ihre Eltern aus der Gruppe mit den geringsten Bildungserfahrungen kommen."
75 Prozent Pflichtschule
Ihre Daten zeigen, dass bei den türkischen Eltern, speziell bei den Frauen, der Anteil jener mit maximal Pflichtschulabschluss mit 75 Prozent besonders groß ist. "Das ist ein türkisches Spezifikum, wir haben Migranten aus anderen Ländern, wo die Bildungsprofile der Mütter besser sind als jene der Österreicher, etwa jene aus Russland oder Ägypten." Das sei im österreichische Bildungssystem, "wo es sehr stark um die elterliche Unterstützung geht, eine massive Benachteiligung", erklärt die Bildungsforscherin.
In der jüngsten PISA-Test-Auswertung 2015 wird mit Blick auf Jugendliche mit Migrationshintergrund erklärt: "Bei Naturwissenschaft ist der Leistungsabstand zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund gegenüber 2012 konstant (groß) geblieben. In Lesen hat sich der Leistungsabstand tendenziell wieder vergrößert." Was bedeutet, dass diese Kinder nicht weiter aufgeholt haben.
"Derzeit wird noch ausgearbeitet, was das konkret heißt und welche Ursachen das hat", erklärt Expertin Herzog-Punzenberger. Demnächst soll es auch spezielle PISA-Ergebnisse nach Herkunftsland der Eltern geben.
Die Forscherin sieht die Ursache für das schlechte Abschneiden der Kinder aber nicht bei den Eltern: "Was wir seit zehn Jahren konstant in den Daten sehen, ist, dass der Wunsch nach bestmöglicher Bildung für das Kind groß ist. Die wünschen sich, dass sie später angesehene Berufe wie Arzt oder Anwalt ergreifen. Doch fehlt ihnen die Vorstellung, wie man da hinkommt."
Der Chef der Wiener Pflichtschullehrer-Gewerkschaft, Stephan Maresch, versucht das Phänomen der schwachen Leistungen der jungen Türken so zu erklären: "Die Türken sind vielleicht ein Stück weniger bei uns angekommen. Sie fühlen sich als Türken und leben in türkischen Communitys. Bei der zweiten großen Gruppe, den Serben, würde ich das weniger bemerken."
Aber wie soll gegengesteuert werden? Bildungsexperten wie Pädagogen mahnen vor allem ein, bereits ab dem Vorschulalter die Kinder ganztägig zu unterrichten. In Staaten wie Frankreich oder Schweden sei das üblich, sagt Forscherin Herzog-Punzenberger, und auch von den türkischen Familien akzeptiert. Ergebnis: Die Leistung der türkischen Kinder ist dort nicht mehr signifikant schlechter als jene der Einheimischen.
Bis zum Schicksalstag sind es noch exakt zwei Wochen. Am 16. April entscheiden die Menschen in der Türkei über die politische Zukunft ihres Landes. Und egal, ob die rund 55 Millionen Wahlberechtigten beim Verfassungsreferendum ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit einem "Ja" oder "Nein" antworten – das Ergebnis hat jedenfalls weitreichende Konsequenzen.
Seit Wochen, ja Monaten ist die Community in Aufruhr – und gespalten. Auch hierzulande sind weit mehr als 100.000 türkische Staatsbürger beim Referendum wahlberechtigt, und die Frage, ob Politiker aus Ankara in Österreich wahlwerben dürfen, beschäftigte die Innenpolitik über Wochen.
Für den KURIER ist das richtungsweisende Referendum Anlass genug, einen Blick auf die türkisch-stämmigen Mitbürger zu werfen.
Wie leben sie, was bewegt sie?
Warum fühlen sich manche ganz selbstverständlich als Österreicher, andere bloß als hier Geduldete? Und vor allem: Wie kann in einer ohnehin über Gebühr aufgeheizten Stimmung das Zusammenleben noch besser oder überhaupt funktionieren?
Fragen wie diesen widmet sich der KURIER in den kommenden Tagen eingehend. Ein Reporter-Team hat mit Dutzenden Menschen gesprochen und verschiedenste Schauplätze besucht, darunter Moscheen und Kulturvereine, Schischa-Bars oder auch ein türkisches Gymnasium.
Ein unvoreingenommener Blick
Prediger, Vereinsobleute und Wirte, einfache Arbeiter und Akademiker, sie alle kommen zu Wort, und bei den Begegnungen und Recherchen stand und steht im Vordergrund, einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die Welt der Austro-Türken zu werfen.
Fest steht: Um den freundschaftlichen Austausch der beiden "Welten" steht es nicht zum Besten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass zwei Drittel der Österreicher laut einer KURIER-OGM-Umfrage zwar beruflich und im Alltag mit türkischen Mitbürgern in Kontakt stehen, dass aber satte drei Viertel antworten, sie würden privat keinen Kontakt zu türkischen Mitmenschen pflegen (Grafik)?
Fest steht außerdem: Die Türken oder die türkische Community gibt es nicht.
Ihr lebt hier
Der Titel der KURIER-Serie "Unsere Türken" ist in dieser Hinsicht alles andere als vereinnahmend oder despektierlich, sondern vielmehr eingemeindend gedacht, frei nach dem Motto: Ihr lebt hier, ihr habt hier Platz, ihr gehört hierher zu uns.
Den Beginn der Serie machen zwei Reportagen mit Bilal Baltaci. Der 25-jährige Österreicher wuchs als klassisches Gastarbeiterkind im Zillertal auf und lebt heute in Wien.
Baltaci arbeitete ein Jahr lang für den Österreich-Ableger einer türkischen Zeitung.
Er leistete sich als Journalist eine eigene, in diesem Fall Erdoğan-kritische, Meinung und tat diese mehrfach auch im KURIER kund. Seither wird er auch bedroht.
Unterschiedliche Perspektiven
Warum mit einzelnen Vertretern der türkischen Community kontroversielle Dialoge mitunter schwierig sind; welche unterschiedlichen Wahrnehmungen es zur Türkei und Österreich gibt und wo türkisch-stämmige Menschen die wahren Probleme des Zusammenlebens und der Politik verorten, das und vieles mehr soll die folgende KURIER-Serie in den nächsten beiden Wochen durchaus intensiv ausleuchten.