VfGH: Abschiebung nach Afghanistan derzeit nicht möglich
In einem sind sich europäische Politiker einig: Das Flüchtlingsjahr "2015 darf sich nicht wiederholen", betonen Staats- und Parteichefs, Minister und Landespolitiker mantrahaft. Wie mit der Situation in Afghanistan umzugehen ist, darüber scheiden sich allerdings die Geister.
Während Großbritanniens Regierungschef Boris Johnson im kommenden Jahr 20.000 afghanische Flüchtlinge aufnehmen will, Deutschlands scheidende Kanzlerin Angela Merkel gegenwärtig wie auch Österreich damit beschäftigt ist, eigene Staatsbürger außer Landes zu bringen, wird in Österreich über die Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen diskutiert.
Richtungsweisendes Urteil
Ein richtungsweisendes Urteil des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) vom Mittwoch dürfte Auswirkungen auf künftige Abschiebungen nach Afghanistan haben: Ein afghanischer Staatsbürger hatte aufschiebende Wirkung betreffend seiner Anhaltung in Schubhaft beantragt. Die Verfassungsrichter gaben dem statt und bezogen sich in ihrem Spruch auch auf die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Vor diesem Hintergrund sei eine zeitnahe Abschiebung nach Afghanistan nicht möglich, heißt es.
Über den Mann war im April 2021 - nach zwei abgeschlossenen Asylverfahren - die Schubhaft verhängt worden. Aus der Schubhaft heraus stellte der Mann einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) erachtete die Fortsetzung der Schubhaft aber weiterhin als verhältnismäßig, da Fluchtgefahr bestehe. Gegen diese Entscheidung langte beim VfGH eine Beschwerde ein.
Wörtlich heißt es in dem Spruch der Verfassungsrichter: "Vor dem Hintergrund der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ist für den VfGH nicht zu erkennen, dass eine zeitnahe - die gesetzlichen Höchstgrenzen der Anhaltung in Schubhaft berücksichtigende - Abschiebung des Antragstellers in seinen Herkunftsstaat möglich ist. Die Verhängung und Aufrechterhaltung der Schubhaft (und der damit einhergehende Freiheitsentzug) erweisen sich jedoch nur dann als verhältnismäßig, wenn das zu sichernde Verfahren letztlich zu einer Abschiebung führen kann."
Nehammer: "deutlich Luft nach oben"
Dass die Regierung am Tag der Machtübernahme der Taliban an Abschiebungen von Afghanen festhielt, Kanzler Sebastian Kurz sich bis dato nicht äußerte, erachtet SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner als "skurril und verantwortungslos". Sie fordert eine internationale Afghanistan-Konferenz in Wien, einen EU-Sonderbeauftragten und einen Flüchtlingsdeal mit Afghanistans Nachbarstaaten. Letzteres forciert seit Tagen die ÖVP. Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer setzen auf Hilfe vor Ort und setzen sich für Abschiebezentren in Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan ein. Eine Videokonferenz im September sei avisiert, ein Termin noch ausständig, heißt es aus dem Innenministerium zum KURIER.
Die EU müsse, so Nehammer, mit den Nachbarregionen Afghanistans „Verhandlungen auf Augenhöhe“ führen und die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Für den Innenminister haben die genannten Länder betreffend der Aufnahme von Flüchtlingen noch "deutlich Luft nach oben" – ganz im Gegensatz zu Österreich, das gegenwärtig rund 44.000 afghanische Staatsbürger beheimate. Damit zähle man neben Schweden und Deutschland zu den EU-Ländern mit den größten afghanischen Communities (gemessen an 100.000 Einwohnern). Das bringe Integrations- und Sicherheitsprobleme mit sich, der "soziale Wohlfahrtsstaat darf nicht in Schieflage kommen", so Nehammer.
Immer mehr Landespolitiker wie Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) oder Innsbrucks grüner Bürgermeister Georg Willi plädieren indes für die Aufnahme von Frauen und Kindern aus Afghanistan und bieten explizit deren Aufnahme an.
Nehammer sprach gestern mit seinen Amtskollegen auf europäischer Ebene über Afghanistan. Eine Lösung konnten die EU-Minister nicht finden. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson forderte die Mitgliedsstaaten auf, durch die Taliban besonders bedrohte Afghanen aufzunehmen und Abschiebungen auszusetzen. Angedacht wird seit Längerem, mit der Türkei einen weiteren Flüchtlingsdeal zu schließen. Fast vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien betreut die Türkei bereits, finanziert wird dies mit EU-Geldern. Auf ähnliche Weise könne die Türkei auch Afghanen versorgen, hofft man in der EU. Schon jetzt leben 500.000 Afghanen im Land. Doch in der Türkei regt sich massiver Widerstand gegen einen weiteren Deal.