Türkisches Vereinsleben: Von der Wiege bis zur Bahre
Von Bernhard Ichner
Im 600 Quadratmeter großen Freizeitbereich des ATIB-Kulturzentrums in Bad Vöslau (NÖ) ist dreierlei verboten: sich auf die Billardtische zu setzen, Schimpfwörter zu verwenden und über Politik zu reden. Diskussionen über Erdoğan oder das Referendum gebe es deshalb kaum, erzählen die Männer, die sich hier nach der Arbeit zum Teetrinken, Fußballschauen und Plaudern treffen, dem KURIER.
Lebensmittelpunkt
Wir treffen hier Vorstandsmitglied Haluk Aykut, der 1972 als Schlosser nach Österreich kam, sich 1975 in Bad Vöslau niederließ und den Ortsverein mit aufbaute. In einem kleinen Haus hatte man sich damals einen Gebetsraum eingerichtet, der von 50 bis 60 Muslimen genützt wurde.
Seit 2009 sieht die Lage anders aus. Da wurde nach anfänglichen Widerständen der Anrainer um mehr als 1,3 Millionen Euro (aus Spenden und einem Kredit) das ATIB-Kulturzentrum mit gläsernen Minaretten, Moschee, Imbiss, türkischer Greißlerei, drei Klassenräumen und Freizeitkeller eröffnet. Für rund 300 Mitglieder aus der Umgebung ist es mit einem Imam und drei ehrenamtlichen Hodschas (Religionslehrern) sowohl soziales als auch kulturelles Zentrum. Probleme mit der Nachbarschaft gibt es längst nicht mehr.
Service für Mitglieder
Von der Kindheit über die Jugend bis zu wichtigen Feiern und sogar im Falle ihres Ablebens profitieren die Mitglieder vom Verein, erzählt Herr Aykut. Das beginne schon bei der Geburt eines Kindes. Während manche Väter dem Neugeborenen einen Gebetsaufruf ins rechte und den Namen des Kindes in linke Ohr flüstern, lassen andere dies vom Imam erledigen. Zwischen zwei und acht Jahre später werden die Burschen dann beschnitten.
Und auch die religiöse Erziehung findet im Moscheeverein statt. „Mit sechs oder sieben Jahren lernen die Kinder hier, den Koran zu lesen und wie man betet.“ An Wochenenden und am Nachmittag bietet der Ortsverein Bad Vöslau außerdem Nachhilfe für Schüler an. Zudem heißt man regelmäßig Schulklassen willkommen, um ihnen etwaige Berührungsängste mit dem Islam zu nehmen.
Beerdigungshilfe
Bei einem anderen Kapitel des Lebens hat ATIB dagegen ein Monopol inne – und zwar beim letzten. Die Überführung Verstorbener war einer der Hauptgründe, warum ATIB gegründet wurde. Waren doch vor allem die Vertreter der Erstgeneration oft mit der organisatorisch wie finanziell aufwendigen letzten Reise ihrer Angehörigen zurück in die alte Heimat überfordert. In Gasthäusern und Vereinen wurde einst Geld für solche Fälle gesammelt.
Heute ist das anders, sagt Aykut, und zeigt uns einen Erlagschein über 15,20 Euro. So viel zahlt jedes der 100.000 ATIB-Mitglieder als „Beerdigungshilfe“ an die Union. Dafür übernimmt ATIB ab dem Zeitpunkt des Todes sämtliche notwendigen Schritte – vom Abtransport des Leichnams über die Verwaltung und den Flug in die Türkei bis zur Überstellung auf den Friedhof. Ein Angehöriger kann sogar gratis mitfliegen.
„Wir sind ein liberaler Verein“, sagt ATIB-Sprecher Selfet Yilmaz. „So haben wir etwa auch christlich-orthodoxe Mitglieder, die wir überführen.“