Theologe: "Heute ist das Fegefeuer der Schmerz über das Versäumte"
KURIER: Herr Professor, was bedeutet Ihnen Weihnachten?
Matthias Beck: Da feiern wir den Mensch gewordenen Logos Gottes.
Wie bitte?
Lange wussten die Menschen nicht, ob es einen Gott gibt, bis er anfing zu sprechen. Dieser Urgott Jahwe hatte beschlossen, sich in der Welt zu zeigen und hat das Volk Israel angesprochen – „Dabar“ heißt das hebräische Wort für Sprechen, Handeln. Das Handeln Jahwes hat das Volk Israel aus der Knechtschaft Ägyptens befreit. „Dabar“ wurde übersetzt mit dem altgriechischen „Logos“. Und zu Weihnachten feiern wir, dass diese „Logik“ Gottes Mensch wird. Leider wurde „Logos“ mit „Wort“ übersetzt: das Wort ist Fleisch geworden, das versteht kaum noch jemand. Tatsächlich ist aber dieser Logos heute überall zu finden, auch in der Natur und in den Wissenschaften wie Bio-logie oder der Sozio-logie. Der eine Logos, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, zeigt sich auch im Menschen und der Natur.
Denken Sie, dass der Großteil der Österreicher Weihnachten auch so versteht?
Wohl eher nicht. Natürlich kann man es für Kinder auch einfacher erklären: Gott ist als Kind auf die Welt gekommen. Er hat unser Leben geteilt. Weihnachten feiern wir seine Geburt, die Hirten bringen Geschenke und auch wir. Aber ich unterrichte am Institut für Systematische Theologie und Ethik, die Studenten wären mit solchen Antworten nicht zufrieden.
Das Theologie-Studium wird derzeit nicht gerade überrannt. Bedauern Sie das?
Ja, denn die Universitäten sind aus der Theologie entstanden. „Der Glaube sucht den Intellekt“, sagte Anselm von Canterbury, der christliche, logische Glaube schreit nach Reflexion. Dazu, dass die Theologie an den Rand gedrückt ist, haben wir aber auch selbst beigetragen. Die Kirche hat vielleicht zu wenig erklärt, worum es im Christentum geht und lange gegen Wissenschaften gearbeitet.
Da hat die Kirche für Sie eine unrühmliche Geschichte?
Ich will die Altvorderen nicht kritisieren, aber die Natur durch Naturwissenschaften zu erforschen, ist doch auch eine Form des Gottesdienstes. Es geht ja um die Suche nach der Wahrheit und um die Frage, wie es sich verhält. Dreht sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne? Die Leute sagen heute, sie gehen in die Natur, um Gott zu finden. Da sage ich: Selbstverständlich finden sie dort Gott, er hat die Natur ja gemacht, aber sie finden ihn auch in sich, zwischen den Menschen und in den Sakramenten.
Sie glauben an Gott?
Ja, aber nicht so sehr an den Übervater, der alles mit der moralischen Keule verurteilt. Sondern an den Gott, der mich führt und mein Leben zur Entfaltung bringen will. Mein letztes Buch hat den Untertitel: „Für eine Spiritualität der Entfaltung“. Wir haben zu viel Negatives in der Ethik, wir brauchen mehr das Positive.
Aber ist nicht die katholische Kirche sehr auf Buße konzentriert und wenig auf das Positive, Fröhliche?
Ja, viel zu wenig fröhlich. Dabei geht es um die christliche Botschaft, die uns befreit, eine fröhliche, Glück bringende Botschaft, die zu einer tiefen Freude führt. Der altgriechische Begriff für Glück wird übersetzt mit „dem guten Geist folgen“. Wir würden da sagen, „dem Heiligen Geist folgen“, dann findest Du die Fülle Deines Lebens. Du darfst und Du sollst deine innere Freude finden. Griechisch „Enthusiasmus“, in Gott sein, Begeisterung.
Wir sind eine säkulare Gesellschaft. Denken Sie, dass der Glaube wieder entstehen kann – auch als Konterpart zu einer Religion wie dem Islam?
Das könnte sein, dass wir durch die anderen Religionen herausgefordert werden. Das ging mit dem Zen-Buddhismus los und geht jetzt mit dem Islam weiter. Sogar mit dem Atheismus, auch wenn der natürlich keine Religion ist. Deshalb glaube ich, dass wir den Menschen eine aufgeklärte Religiosität beibringen müssen, damit wir in den Dialog kommen mit der Welt.
Wir sind als Katholiken etwas beliebig: ein bisschen Folklore, aber kaum richtig gläubig.
So viele Menschen erklären mir, es sei schade, dass sich niemand mehr für Religion interessiert. Ich drehe das dann um und sage, sie sollen sich nicht äußerlich für Religion wie für Mathematik interessieren, sondern für ihr eigenes Leben. Der christliche Glaube ist dafür da, dass das eigene Leben zur besseren Entfaltung kommt, dass es zur besseren Erkenntnis führt.
Welche Fragen muss ich mir denn stellen, um meine Spiritualität zu finden?
Wer bin ich, wo liegen meine Talente, wo zieht es mich hin, was sagt mir die stille innere Wahrheitsstimme? Andererseits werden die Fragen auch vom Leben gestellt – durch Krankheit, Tod und Endlichkeit, weil etwa der Partner weggeht oder die Kinder ausziehen. Man muss nur die Zerbrechlichkeit der Welt anschauen, dann stellen sich die Fragen automatisch.
Man kann aber auch sehr diesseits-gläubig sein und sagen, man hat nur ein Leben, und wenn es aus ist, ist es aus.
Ja, da habe ich nichts dagegen. Schade nur, wenn man so vor sich hinlebt, und dann doch jemand – Gott – fragt, wie dieses Leben war. Da lebe ich lieber so, dass ich am Ende gut dastehe. Das habe ich oft bei Sterbenden erlebt, die dann merken: Während sie immer nur Geld verdienen wollten, ist die Ehe zerbrochen, die Kinder sind rauschgiftsüchtig geworden, und jetzt können sie es nicht wiedergutmachen. Das, was wir früher Fegefeuer genannt haben, wird zum Schmerz über die Erkenntnis dessen, was ich versäumt habe im Leben.
Und was sind dabei die Versäumnisse der Kirche?
Wir haben versäumt, klarzumachen, dass es nicht um die Kirche geht, sondern um den Menschen. Der Mensch ist der Tempel des Heiligen Geistes, sein Leben soll zur Fülle kommen, das ist die Verherrlichung Gottes. Das Subjekt steht auch im Zentrum der neuzeitlichen Philosophie. Um 1500 malt Dürer sein erstes Selbstporträt, Luther sagt: hier stehe ich und kann nicht anders, Ignatius entwickelt seine Exerzitien. Da geht es immer zentral um die eine Frage: Gott und ich sowie Gott und der andere.
Und wie finden wir unsere Spiritualität wieder?
Wir haben das Christentum fast zu sehr auf die Moral fixiert. Fragen Sie Menschen, wo sie ihre Spiritualität suchen: sie fahren nach Indien, machen Yoga, keiner kommt aber auf das Christentum. Das haben wir etwas vermurkst. Hören wir mehr in uns hinein in der Stille, lernen wir Jesus Christi besser kennen durch Bibellesen.
Hat uns die Kirche nicht auch zu verstehen gegeben, ich bin nichts, die Kirche ist alles?
Ich drehe die Sache auf den Kopf und sage: Du bist alles, und die Kirche, also wir alle, sollen einander helfen, dass jeder alles werden kann. Es geht nicht nur darum, am Sonntag in die Kirche zu gehen (das auch), aber wichtiger für mich ist die Frage, wie ich Gott in meinem Alltag finde, wo begegnet er mir, wie kann ich mit ihm in Dialog treten. Kann ich in einer Krankheit Gott erkennen?
Aber wenn man mitten im Leben an Krebs erkrankt, ist das doch Schicksal, oder nicht?
Das ist doch totaler Quatsch. Wir wissen, dass alle Krebserkrankungen einen genetischen Hintergrund haben, aber Gene müssen erst ein- und ausgeschaltet werden durch epigenetische Einflüsse. Lebensstile, zwischenmenschliche Beziehungen und auch die Spiritualität sind solche epigenetischen Einflüsse, sie tragen wesentlich zu Krankheit und Gesundheit bei.
Krebsforscher sagen aber, die Psyche spielt keine Rolle.
Wir wissen, dass Lebensstile Krankheiten beeinflussen. Alleine wenn man täglich eine halbe Stunde spazieren geht, senkt das das Krebsrisiko. Wir haben 30.000 Gene und 1,5 Millionen epigenetische Zusatzeinflüsse, die Gene an- und abschalten können. Die Frage ist, wer die Hand am Schalter hat? Ich denke, je mehr wir daran forschen, desto mehr werden wir erkennen, dass unser Lebensstil, aber auch unsere Spiritualität großen Einfluss haben.
Das würde ja bedeuten, dass man selber schuld ist an seiner Krebserkrankung?
Nein, Jesus hat das klar gesagt, niemand hat Schuld an einer Krankheit. Wir können daraus etwas lernen.
Das klingt hart.
Das klingt ermutigend! Ich bin nicht blind einem Schicksal ausgeliefert. Im Krankenhaus kommt so oft die Frage: Warum ich? Die tiefergehende Frage ist dabei, ob das etwas mit meinem Leben zu tun hat. Man will das verstehen.
Also ist ein gläubiger Mensch, der mit sich im Reinen ist, weniger anfällig für Krankheiten?
Ja, da gibt es ja unzählige Studien dazu. Die Hälfte aller Bibelgeschichten drehen sich doch um Heilung von Kranken, das muss ja eine Bedeutung haben. Das gibt es auch in anderen Glaubensrichtungen und macht eines klar: Der Geist kann die Materie verändern. Eine gute Spiritualität hat Einfluss auf das Immunsystem und die Epigenetik. Das heißt nicht, dass ein spiritueller Mensch nicht auch krank werden kann.
Also wollen Sie den Menschen mitgeben: Spiritualität kann jedenfalls hilfreich sein?
Ja, es macht das Leben besser, reicher, voller und auch heiler.
Wie sehen Sie es, dass der Religionsunterricht in der Schule immer mehr als Möglichkeit zur Freistunde gesehen wird?
Ich fordere seit Jahren einen verpflichtenden Ethikunterricht für die, die sich abmelden. Das ist besser, als im Kaffeehaus zu sitzen. Das kann schon ab der Volksschule geschehen. Ich will den Religionsunterricht nicht ersetzen, ich will beides. Es kommen ja Fragen in der Ethik auf, die von der Religion ergänzt werden. Ich habe Schüler einmal gefragt – Warum bringst du deinen Mitschüler nicht um? Weil es verboten ist, war die Antwort. Und wenn es nicht verboten wäre? Darüber, erklärten sie mir, müssen wir erst nachdenken. Und darum geht es: Ethik fordert uns auf, nachzudenken, warum wir etwas tun oder nicht tun.
Welche ethischen Fragen kümmern einen Sechsjährigen?
Wie geht es dir, wenn ich dir den Stift wegnehme? Geht es dir besser, wenn du schlecht über andere redest? Was macht das mit dir, wenn du lügst? Die Bindung an die eigene Emotionalität dient der genaueren Wahrnehmung.
Wir haben schon über den Islam gesprochen, wie sehen Sie diese Religion?
Im Christentum ist der Logos, das göttliche Wort, in der Person Christi Mensch geworden. Daher ist die Wahrheit – Jesus sagt: „Ich bin die Wahrheit“ – etwas Lebendiges. Der Islam sagt, das göttliche Wort ist im Koran Buchstabe geworden. Wir sprechen von der christlichen Inkarnation, der Islam von der Illiteration. Die Wahrheit einer lebendigen Person ist etwas anders als die Wahrheit einer toten Schrift. Darüber sollten wir liebevoll sprechen, wir haben ja denselben Urvater Abraham.
Kardinal Schönborn sagt, der Islam habe die Aufklärung noch vor sich.
Kollegen von der islamischen Theologie sagen mir, die Muslime dürften die Fehler des Christentums nicht wiederholen und wegen religiöser Fragen Kriege führen. Wesentlich scheint mir die Frage, wie der Islam das selbst sieht, ob er mit seiner Struktur aufklärungsfähig ist. Denn für manche Muslime ist das Einlassen auf eine liberale Demokratie an sich schon schwierig, weil die Trennung von Kirche und Staat im Islam nicht gegeben ist. In manchen Richtungen des Islam muss das Göttliche direkt übersetzt werden auf das Leben. Jesus aber sagt, mein Reich ist nicht von dieser Welt. Da ist die Bibel ganz klar für die Trennung.
Sie haben Pharmazie studiert, Medizin, Philosophie und dann Theologie . . . Hatten Sie so etwas wie ein Erweckungserlebnis oder geschah das aus einer persönlichen Krise?
Nein, ganz im Gegenteil. Ich verdiente ganz gut als Pharmazeut, ich hatte Pferde, ich war Junioren-Europameister im Dressurreiten, ich hatte eine schicke Freundin und dachte erstmals ans Heiraten. Und dann mit 25, plötzlich, aus der Fülle des Lebens, brach für mich der Himmel auf, für eine Millisekunde, und zeigte mir eine ganz andere, neue Dimension.
Mit dem Zölibat hatten Sie kein Problem? Wäre ihr Leben mit einer Frau nicht kompletter?
Ja ich kann sagen, da fehlt etwas, das ist eine Wunde. Eine Familie wäre großartig. Aber ich wurde erfüllt von einer Ergriffenheit, ich wusste damals, dass es mehr gibt als beruflichen Erfolg, mehr als Geld. Da war ich am Angelhaken Gottes. Wenn das nicht mehr ist als alles andere, dann können Sie das vergessen.
Finden Sie den Zölibat gut?
Ich würde es den Menschen freistellen. Ich glaube, dass es Menschen gibt, die dazu berufen sind und andere vielleicht eher nicht.
Zur Person: Ao. Univ.-Prof. DDr. Matthias Beck
Medizin, Pharmazie, Theologie
Geboren 1956 in Hannover, Studium der Pharmazie, dann Medizin mit Studienaufenthalt in Indien, Studium der Philosophie und Promotion in Theologie. Habilitation 2007 im Fach Moraltheologie mit Schwerpunkt Medizinethik. Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben und in vielen Ethikkommissionen z.B. beim Bundeskanzleramt in Wien.
Die Jesuiten
Beck ist kein Mitglied des Jesuitenordens, hat aber bei den Jesuiten Philosophie studiert und die großen 30-tägigen Exerzitien gemacht. Der Orden wurde von Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert gegründet. Viele Jesuiten arbeiten an Unis. Mitglieder tragen den Namenszusatz SJ für „Societas Jesu“ – (als schlaue Jungs bekannt).