Südtiroler Modell für Inklusion: "Ohne ein Netzwerk geht es nicht"
Von Ute Brühl
Reformfreudige Bildungspolitiker haben einen neuen Wallfahrtsort entdeckt: Statt nach Finnland pilgern sie jetzt nach Südtirol, um zu sehen, wie Autonomie, Ganztagsschule oder Inklusion in der Praxis funktionieren können. In der vergangenen Woche wurde der umgekehrte Weg gegangen. Da besuchte der Südtiroler Bildungslandesrat Philipp Achammer Bildungsministerin Sonja Hammerschmid (SP).
Hauptgesprächsthema war neben dem Lehrermangel, der in Südtirol schon spürbarer ist als in Österreich, die Inklusion, also die Integration von Schülern mit Behinderungen ins reguläre Schulwesen. In Italien ist dies schon seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit und wird dort nur von wenigen infrage gestellt.
Schöne neue Schulwelt? Auch in Südtirol gibt es Kinder, die eine besondere Herausforderung für die Pädagogen und für Mitschüler sind: massiv verhaltensauffällige Schüler, die im großen Klassenverband überfordert sind. "Eines muss klar sein: Die Schule kann nicht alle Probleme lösen, weshalb sie in ein breites Netz eingebettet ist, etwa von Kinderpsychiatern, Unterstützungspersonal oder Jugendgerichtsbarkeit. Ohne dieses Netzwerk geht es nicht", sagt Achammer. In Extremfällen, wenn es am Standort keine pädagogische Lösung gibt, erhält die Schule für das Kind eine zusätzliche Unterstützung. "Das kommt bei unseren 45.000 Schülern etwa zehn Mal im Jahr vor." Zum Vergleich: In Österreichs Klassenzimmern sitzen rund 1,1 Millionen Schüler.
Time-out-Gruppen
Für Bildungsministerin Hammerschmid ist der südliche Nachbar ein Vorbild: "Wir wollen die Sonderschulen nicht sofort abschaffen, sondern die bestehenden öffnen und sie in unser Schulsystem integrieren. Deshalb haben wir die Modellregionen wie z. B. in Kärnten, die wir bis 2020 begleiten und evaluieren." Die zuständige Landesschulinspektorin Dagmar Zöhrer lobt das Modell, besonders im Umgang mit Verhaltensauffälligen: "Für die gibt es Time-out-Gruppen, wo die Betroffenen darauf vorbereitet werden, mittelfristig in ihre Stammklasse aufgenommen zu werden. Für jeden Schüler ist ein Team aus Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern, Pädagogen und einem Vertreter der Koordinationsstelle für verhaltensauffällige Kinder zuständig, das sich verpflichtend alle sechs Wochen treffen muss. Sie erstellen ein Konzept, wie das Kind wieder ins Regelsystem eingegliedert wird."
Verhaltensauffällig
Der Vorteil des Systems: "Früher hatten diese Kinder kaum Chancen, wieder ins normale Schulsystem integriert zu werden. Jetzt wird ihnen das ermöglicht, indem sie stundenweise in die Regelklasse wechseln. Wenn man weiß, dass verhaltensauffällige Kinder ein vier Mal höheres Risiko haben, später kriminell oder arbeitslos zu werden, ist das sicher ein guter Schritt." Doch es gibt auch Kritik: Lehrervertreterin Claudia Wolf-Schöffmann spricht aus, was ein elementares Problem im Bildungssystem ist: "Viele Schüler und Lehrer im Schulsystem trauen sich nicht, Probleme offen anzusprechen. Nach außen dringt nur, was ideologisch gewünscht ist. Ich kenne aber Standorte, wo Lehrer Kinder im Rollstuhl über die Stiegen tragen müssen, weil kein Lift eingebaut ist, oder wo Sonderpädagogen jahrelang nicht nachbesetzt werden. In manchen Time-out-Gruppen sitzen Kinder nicht Monate, sondern Jahre."
Für die Befürworter der Inklusion geht es um eine Haltung der Lehrer, die sich für die Kinder verantwortlich fühlen, wie Achammer sagt: "Wenn ich das Argument höre, Inklusion senkt das Niveau, finde ich das erschreckend. Wir haben in Südtirol sehr gute PISA-Ergebnisse." Ein Plus hat Südtirol, das Österreich so nicht kennt: Wo nötig, erhalten die Kinder mit Behinderungen Unterstützung durch "Mitarbeiter für Integration", die eine eigene Ausbildung haben.
...Sozialarbeiter:
Diese sollen aus dem Integrationstopf 2 und 3 finanziert werden: „Die Mittel kommen nicht nur Migranten, sondern allen Schülern zugute.“
...skeptische Eltern:
„Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, die Schulen vor Ort zu besuchen. Ich kann noch so viel reden. Überzeugt werden sie nur, wenn sie sehen, dass es in der Praxis funktioniert.“
...Schließung der Sonderschulen:
„Wir wollen die räumlichen und personellen Ressourcen der jetzigen Sonderschulen nutzen, um inklusiv zu arbeiten. Außerdem setze ich auf die neue Lehrerbildung, die erstmals allen Pädagogen Grundlagen der Sonderpädagogik vermittelt.“