Studierende im Stress: "Man fühlt sich wie ein Roboter"
„Schauen Sie zu ihrem rechten Sitznachbarn, schauen Sie zu ihrem linken – beide werden Sie in einem Jahr nicht wiedersehen.“ Es sind Sätze wie dieser, mit dem Professoren an manchen Wiener Universitäten Studierende im ersten Semester begrüßen. Auch die 21-jährige Lisa und die 20-jährige Sarah haben ihn gehört, als sie vor zwei Jahren ihr Jus-Studium begonnen haben.
„Man hat dann natürlich gleich von Beginn an Angst vor den ersten mündlichen Prüfungen“, sagt Lisa. „Es hängt so wahnsinnig viel von diesen einzelnen, wenigen Situationen ab. Du lernst oft drei Monate auf diesen Tag hin, dann werden dir drei Fragen gestellt – und wenn du eine einzige davon unzureichend beantwortest, bist du durchgefallen.“
Lustiges Studentenleben? Das ist lange vorbei. Die wochenlange Lernzeit vor großen Prüfungen ist für viele Jus-Studierende wie ein Vollzeit-Job: Sie verbringen täglich etwa zehn Stunden in der Bibliothek des Juridicums, sehen kaum Sonnenlicht. Auf den Tischen finden sich Broschüren mit Tipps für effizienteres Lernen, sie tragen Titel wie: „Der perfekte 10-Stunden-Lerntag“.
Stress, nicht nur am Tag. In intensiven Lernphasen schläft Sarah nur etwa drei bis vier Stunden pro Nacht. „Irgendwann fühlt man sich dann wie ein Roboter“, meint Lisa. Sie hatte zwischenzeitlich Panikattacken, auch während der Prüfungen. „Ich sehe dann, dass der Prüfer etwas sagt – aber ich höre ihn nicht mehr“, sagt sie. „Es ist, als würde er eine andere Sprache sprechen.“
Lisa und Sarah sind bei weitem nicht die Einzigen, denen es so ergeht. Der Psycho-Stress, dem Studierende weltweit ausgesetzt sind, steigt stetig. Immer mehr brauchen professionelle Hilfe. Die Zahl jener, die psychisch erkranken, erhöht sich drastisch.
„Der Andrang auf unsere Hilfsangebote ist seit der Jahrtausendwende massiv gestiegen“, meint Dr. Franz Oberlehner, Leiter der psychologischen Studierendenberatung Wien. „Die Zahl jener, die bei uns wegen Anzeichen von psychischen Störungen betreut werden, hat sich in den letzten zwanzig Jahren um etwa 70 Prozent erhöht.“
Oberlehner leitet ein Team von 17 ausgebildeten Psychologen, die sich um die Sorgen der Studierenden kümmern. Der Service ist kostenlos, finanziert wird die Beratungsstelle aus dem Budget des Bildungsministeriums. Unbegrenzt Geld ist aber nicht vorhanden, es gibt nur zwölf Vollzeitstellen, die Psychologen arbeiten also nur wenige Wochenstunden. In diesem Jahr wird einer von ihnen in Pension gehen, die Stelle kann aus Geldnot nicht nachbesetzt werden.
Etwa die Hälfte aller Studierenden, die sich an Oberlehner und sein Team wenden, weisen Anzeichen ernsthafter psychischer Probleme auf. Am häufigsten sind depressive Merkmale, gefolgt von Ängsten und Angststörungen. „Ich glaube, dass heute nicht nur viele Professoren, sondern auch Universitäten Wert darauf legen, dass ihr Niveau besonders hoch ist, und ihre Prüfungen besonders schwer sind“, meint Oberlehner.
Berüchtigt sind in Wien zum Beispiel Mechanik-Prüfungen in technischen Studiengängen, die oftmals nur jeder zwanzigste Teilnehmer besteht. „Da gibt es Leute, die schon alles erledigt haben – und dann scheitern sie an dieser einen Prüfung, teilweise über Jahre“, meint Oberlehner. „Das ist für sie entsetzlich.“
Hinzu komme, dass sich das gesellschaftliche Klima zunehmend verändere, auch an den Universitäten. Vor fünfzig Jahren hätte man sich mit einem Studienabschluss im Grunde keine Sorgen machen müssen, man habe immer einen Job gefunden. Heute sei das anders, sagt Oberlehner: „Inzwischen zählt der Notenschnitt ebenso wie etwaige Berufs- und Auslandserfahrung. Da sitzt bei vielen schon der Personalchef im Kopf.“
Zeitdruck und Geldmangel
Der Druck nimmt vor allem dann zu, wenn die eigene finanzielle Situation vom Prüfungserfolg abhängig ist. Die Familienbeihilfe (ab dem 19. Lebensjahr 165 Euro monatlich) steht Studierenden beispielsweise nur bis zu ihrem 24. Geburtstag zu – wenn sie bis dahin im Studium gut vorangekommen sind.
Dieses Zeitlimit ist das, was Sarah am meisten Druck macht. Sie arbeitet zwar zehn Stunden pro Woche in einer Bar, ist aber dennoch auf die Familienbeihilfe angewiesen, um über die Runden zu kommen. Würde sie noch mehr arbeiten, hätte sie nicht genug Zeit übrig, um für Prüfungen zu lernen.
Die 28-jährige Helene kommt für die Familienbeihilfe schon länger nicht mehr infrage. Sie studiert Theologie und Geschichte auf Lehramt, auch wegen ihrer schweren Prüfungsangst kommt sie nur mäßig weiter. Schon lange ist sie darauf angewiesen, neben dem Studium zu arbeiten.
Das sagen die Studierenden
Jetzt wurde ihr aber eine Frist gesetzt: Die Theologie-Fakultät der Universität Wien stellt am 30. April 2020 auf das modernere Bologna-System um und Helenes Studienplan läuft aus.
Weil Helene in diesem Fall viele Kurse wiederholen müsste, bedeutet das: Sie hat noch genau 13 Monate Zeit, um 24 Prüfungen zu absolvieren, ihre Diplomarbeit zu schreiben und ihr Studium zu beenden. Zunehmend spürt Helene die Folgen dieses Drucks. Sie schläft nur wenige Stunden pro Nacht und leidet plötzlich unter hartnäckigen Hautproblemen.
Oft gelingt es ihr zwar, die Deadline zu verdrängen oder die Extremsituation zumindest mit Humor zu nehmen. Dennoch überkommen sie immer wieder Weinkrämpfe. Helene will unbedingt Lehrerin werden, unterrichtet nebenbei auch bereits an einem Gymnasium. Wenn sie den Prüfungs-Marathon aber nicht bestehen sollte, wäre sie mit Ende zwanzig weit zurückgeworfen.
Je länger das Studium dauert, desto eher bestimmen Zukunftsängste den Alltag der Studierenden, weiß Franz Oberlehner. Für den Experten wäre bessere finanzielle Unterstützung eine Lösung: „Wenn man den Jugendlichen etwas mehr Zeit und mehr Möglichkeiten für Beihilfen bieten würde, könnte das viel Druck von ihnen nehmen.“