Politik/Inland

"Werft die Parteien nicht auf den Mist"

KURIER: Herr Vranitzky, die SPÖ hat einen Werte- und Kriterienkatalog für künftige Koalitionen vorgelegt. Ist damit die Vranitzky-Doktrin, keine Koalition mit der FPÖ einzugehen, passé?

Franz Vranitzky: Für mich hat sich durch den Kriterienkatalog wenig verändert. Die SPÖ wird auf Basis des Wahlergebnisses und der Bewertung der inhaltlichen Schwerpunkte der anderen Parteien verhandeln.

Fühlen Sie sich von Ihrer Partei verraten?

Nein. Meine Entscheidung, mit der FPÖ keine Regierung zu bilden, liegt 30 Jahre zurück, die politischen und personellen Rahmenbedingungen waren ganz andere. Haider hat damals in seiner Wehleidigkeit das Wort Ausgrenzung gebraucht. Das wird bis heute nachgeplappert. Hätte ich Haider 1986 in die Regierung nehmen sollen, nur dass er sich nicht ausgegrenzt gefühlt hätte? Das wäre absurd gewesen. Ausgrenzung geht in die Richtung als hätte jemand Anspruch auf die Regierung, obwohl eine andere demokratische Mehrheit vorlag.

Befürworten Sie die SPÖ-Mitgliederbefragung über einen Koalitionspakt?

Die politische Verantwortung hat der hoffentlich siegreiche Spitzenkandidat. Ich traue Christian Kern zu, sein Ohr so nahe an der Partei zu haben und zu wissen, ob er richtig liegt, und eine Koalition der Partei und seiner Wählerschaft zumuten kann. Er muss wissen, wie die Stimmung in der Partei und in der Wählerschaft ist.

Parteien verlieren ihren Markenwert. Bewegungen sind modern. Warum misstrauen so viele Menschen den Altparteien?

Das hat mit der beschleunigten Entwicklung und der Globalisierung zu tun. Die Menschen sind in einem hohem Maße vernetzt. Die Parteien spielen im Bewusstsein und im Alltag der Bürger kaum noch eine Rolle. Das Wort Reform wird nicht mehr gerne gehört, Innovation klingt zu technokratisch. Jetzt kommen Personen, wie ÖVP-Chef Sebastian Kurz, der ostentativ auf Distanz zu seiner Partei geht. Meine Antwort ist: Werft die Parteien nicht auf den Mist und klammert Euch nicht an Personen, macht die Parteien modern, so dass sie mitspielen im Zeitalter der Globalisierung.

Wie soll sich die SPÖ ändern?

Die SPÖ gibt keine unattraktive Themen vor, es gibt aber eine zu große Differenz zwischen Wollen und dem, was am Ende herauskommt. Bildung ist ein gutes Beispiel. Hammerschmid und Mahrer ist jetzt sicher etwas gelungen. Man muss aber auch die Stimmen berücksichtigen, die sagen, das Ergebnis der Bildungsreform ist gut, aber nicht gut genug. Parteien müssen sich auf zentrale Fragen konzentrieren, nicht auf Randthemen ausweichen, die der Boulevard pflegt. Wenn man politische Ansprüche stellt, kann man nicht monatelang über das Kopftuch-Verbot reden.

Ist Österreich reformresistent?

Es gibt eine Zurückhaltung gegenüber notwendigen Entwicklungen. Auch in der Europafrage.

Was meinen Sie konkret?

Ein törichter Satz ist: "Wir lassen uns von der EU nicht bestimmen." Die EU sind wir alle. Wir können doch keine Trennlinie zwischen Wir und der EU ziehen. Es obliegt der politischen Führung, Europapolitik zu machen, unter Wahrung des Prinzips der Subsidiarität. Bestimmte Dinge sollten die Länder selbst regeln. Die Kennzeichnungspflicht auf Speisekarten verunsichert nur die Bürger. Anti-Europäer reden dann über die fürchterliche EU-Bürokratie.

Was muss sich ändern?

Das Zusammenspiel von Rat und Kommission ist verbesserungswürdig. Franz Fischler war einer der erfolgreichsten Kommissare und hat richtungsweisende Maßstäbe gesetzt (Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung von 1995 bis Ende 2004). Er hat sich mit uns, mit der Regierung, zusammengesetzt, und wir haben eine Art Verständnisgemeinschaft gebildet, um nicht danach den Schuldigen in Brüssel suchen zu müssen.

Österreich übernimmt in einem Jahr den EU-Vorsitz. Nicht unmöglich, dass der Bundeskanzler dann Heinz-Christian Strache heißt, der mit dem EU-Austritt liebäugelt.

Wenn die Wähler in einer soliden Mehrheit das Europaprojekt bejahen, dann sollte sich diese Einstellung im Wahlverhalten auswirken.

Der Brexit schafft eine jährliche Finanzlücke von 20 Milliarden Euro. Österreich als Nettozahler will nicht mehr zahlen, die EU-Förderungen aber behalten. Droht der nächste EU-Streit?

Über den Nettozahler-Status gibt es viele Missinterpretationen. Der Nettozahler-Status ist aber ein Gütesiegel, weil er ein Zeichen für wirtschaftliche Stärke eines Landes ist. Der Grundgedanke in der EU ist, den Schwachen zu helfen. Wir werden aber über das Agrarbudget, den größten Ausgabeposten, nachdenken müssen. Es gibt immer weniger Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, das wird die EU zur Kenntnis nehmen müssen.

Europa spielt im Wahlkampf keine Rolle. Die Mittelmeerroute hingegen schon.

Die Mittelmeerroute ist ein wichtiges europapolitisches Thema. Gerade in der Migrationsfrage zeigen sich die größten Gegensätze zwischen den EU-Regierungen. Es gibt in der Migrationspolitik keine EU-Linie.

Wird die Mittelmeerroute bald am Brenner enden?

Es wird noch große Probleme geben. Es muss alles unternommen werden, um den Migrationsstrom zu minimieren. Ohne gesamteuropäische Lösung wird das nicht gehen. Der Vier-Punkte-Plan des Verteidigungsministers (Verfahrenszentren außerhalb der EU, ein starker EU-Außengrenzschutz, Rückführabkommen und eine gerechte Verteilung der Asylwerber in der EU, Anm. d. Red.) ist interessant und sollte daher von der EU angenommen und umgesetzt werden.

Die SPÖ hat zwei Gegner im Wahlkampf, ÖVP und FPÖ. Droht Ihrer Partei die Opposition?

Die SPÖ stellt sich gut auf, ich sage das trotz der Meinungsumfragen. Der Wahlkampf hat schon begonnen, die Positionen anderer Kandidaten sind noch diffus. Wenn die SPÖ den Herausforderern klare politische Positionen entgegensetzt und diese gut argumentiert, ist das die beste Voraussetzung für die Titelverteidigung.