Wie Praktiker die neue Lernfreiheit nutzen wollen
Hört man Bildungsministerin Sonja Hammerschmid zu, dann brechen mit der am Freitag vorgestellten Bildungsreform alsbald paradiesische Zustände in den Klassenzimmern an. Ein "umfassendes Paket zum Wohl unserer Kinder", befand die rote Ministerin. Im Zentrum der Reform steht die Selbstbestimmung am Schulstandort, die Schulautonomie.
Mühsame Ansuchen
Worum bisher in Hunderten Schulversuchen mühsam angesucht werden musste, ist demnächst am Standort zu entscheiden: Das fängt bei den Öffnungszeiten an, geht über Schwerpunkte wie Musik oder Sport bis hin zum Auflösen des Klassenverbands. Auch die Klassenschülerhöchstzahl soll nicht mehr in Stein gemeißelt sein. Dass da bei den Lehrergewerkschaftern die Schulglocken Alarm läuten, liegt nahe. Befürchten sie doch, dass die Reform ein Sparpaket durch die Hintertür ist. An ihr könnte also die Reform noch scheitern, die bereits am vergangenen Sonntag im Detail ausverhandelt war. Dass die Lehrer im Nachhinein aufschreien, verwundert und irritiert die Ministerin. Im Ö1-Mittagsjournal meinte sie daher: "Ich brauche Partner, die zu dem stehen, was sie verhandelt haben."
Gewerkschaftliche Bedenken
Hintergrund des Lehrerprotests könnte ein interner Streit in der Beamtengewerkschaft GÖD zwischen ihrem Chef Norbert Schnedl und dem ARGE-Lehrer-Sprecher Paul Kimberger sein. Wobei: Auch der rote Gewerkschafter Thomas Bulant ist mit dem Ergebnis nicht sonderlich glücklich. Er glaubt, dass "berechtigte Wünsche der Lehrkräfte ohne Zustimmung des Finanzministeriums mit diesem Paket nicht erfüllbar sind. Denn für Supportteams und kleinere Fördergruppen an Brennpunktschulen in den Ballungsräumen können nur höhere Investitionen gemäß dem Chancenindex sorgen." Bulant hofft deshalb: "Wenn die Reform nicht ausreicht, dürfen wir alle ein bisserl g’scheiter werden und in Kindergarten, Supportteams und mehr Lehrer in Volksschulen investieren."
Nicht ohne Opposition
Scheitern kann die Reform nicht nur an der Gewerkschaft. Die Regierung braucht auch die Zustimmung der Opposition – entweder der FPÖ oder der Grünen. Deren Bildungssprecher Harald Walser ist zwar nicht abgeneigt, doch der Satz der Ministerin, dass die Eckpunkte bereits feststünden, hat ihm nicht gefallen: "So kann man keine Verhandlung starten." Er will zwar mit keinen Justament-Standpunkten in die Gespräche gehen, aber bei den Themen Verwaltung und Autonomie sowie Bildungsregionen gebe es noch Gesprächsbedarf. Er drängt auch darauf, dass die Schulpartner zukünftig mehr Mitspracherechte am Standort haben.
Sollte die Reform gelingen, ist sie zwar nicht bahnbrechend, aber immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung. Was sie leisten kann und was nicht, hat der KURIER Direktoren, Schüler und Schulinspektoren gefragt (siehe unten).
„Ich habe mich als Schuldirektor eher verhöhnt gefühlt, wenn ich einerseits als „Schulmanager“ bezeichnet wurde, aber in ein hierarchisches System eingebettet war, das mir die Erfüllung der Managementaufgaben erschwerte. Deshalb begrüße ich jeden Schritt in Richtung Autonomie, die den pädagogischen und organisatorischen Gestaltungsspielraum am jeweiligen Standort erweitert.
Am Beispiel eines der Schwerpunkte meiner ehemaligen Schule, den Freiarbeitsklassen: Die vorgesehene Abschaffung des 50-Minuten-Korsetts, die Möglichkeit, die für die jeweilige Unterrichtssituation oder Lernphase passende Gruppengröße variabel zu gestalten und nicht zuletzt die Auswahl der Pädagogen, die für diese Methode ausgebildet und geeignet sind, hätten dieses Modell einfacher umsetzbar und effizienter gemacht.
Schulautonomie ist per se noch keine Erfolgsgarantie, allerdings kann man im internationalen Vergleich feststellen, dass Schulsysteme umso erfolgreicher sind, je mehr Autonomie sie den einzelnen Schulstandorten geben. Es liegt auf der Hand, dass die Menschen an so unterschiedlichen Standorten wie z.B. im Ötztal und Wien-Favoriten am besten wissen, wie sie mit ihren jeweiligen Schülern die zentral vorgegebenen Bildungsziele erreichen.“
Ihre Schule ist die größte NMS in Kärnten mit rund 500 Schülern und einem Schwerpunkt in Informatik. „Wir leben Autonomie schon“, sagt Woitischek, allerdings nur über mühsam organisierte Schulversuche. „Gegen die Leseschwäche haben wir autonom die Deutschstunden erhöht, dafür eine Musikstunde gekürzt. Das Musische kommt deshalb aber nicht zu kurz, wir haben unseren Chor und die Schulband als Freifächer, beide sind sehr beliebt.“
Und die Lesekompetenz sei deutlich besser geworden.
Positiv seien auch die Ergebnisse beim fächerübergreifenden Unterricht: „Geschichte und Geografie kann man gut gemeinsam unterrichten, etwa die geschichtliche und geografische Entwicklung der EU. Da sparen wir uns wieder eine Stunde, und machen dafür eine zusätzliche Förderstunde Mathematik, speziell für jene Schüler, die nachher in eine HTL gehen wollen.“
Für jene Kinder, die nur schlecht Deutsch können, wurden Deutsch-Förderklassen gestartet. „Wir haben mühsam die Ressourcen dafür zusammengekratzt, auch die Landesregierung hat geholfen. Das sind täglich drei bis vier Stunden, damit die Kinder schnell unsere Sprache sprechen können. Das zeigt doch deutlich, was die Autonomie alles ermöglicht.“
Als Schulleiter hat er erlebt, wohin fehlende Schulautonomie führen kann. 2010 klagte er im KURIER , dass er an seiner Schule mit Sportschwerpunkt den Skikurs aufgeben musste, nachdem eine Mutter sich beim Stadtschulrat beschwert hatte, dass dieser samstags stattfindet, was an einer Fünftage-Schule nicht erlaubt ist: Entweder fünf Tage für alle oder für niemanden, so das Gesetz.
Für Böck kann deshalb die geplante Autonomie durchaus einiges für die Schule leisten: „Die größere Flexibilität und mehr standortbezogenen Spielraum in der derzeit verrechtlichten Schule, kommen unmittelbar den Schülern zugute. Die überbordende Bürokratie sowie die politische Einflussnahme zu reduzieren, erleichtert den Schulalltag. Und Autonomie kann relativ schnell z.B. in der Schulverwaltung weitgehend ohne Kosten die räumlichen, personellen und organisatorischen Spielräume nutzen, um einen positiven Start der Reform zu ermöglichen.“
Autonomie könne aber keine isolierte Schulreformmaßnahme sein. „Dann müsste sie scheitern. Andere ebenso dringende Reformmaßnahmen müssten sie begleiten: Anpassung des Dienstrechts, der Lehrerfortbildung, ein an das Ganztagskonzept angepasster Schulbau oder ein Chancenindex.“
„Derzeit haben wir wenig Spielraum, um Probleme an den einzelnen Schulen lösen zu können. Künftig soll aber die Gruppengröße je nach Bedarf angepasst werden können, Lehrerfortbildung vom Direktor vorgeschrieben werden, das wird positive Auswirkungen haben. Öffnungszeiten, Unterrichtszeiten können sich zum Beispiel mehr nach dem Busfahrplan richten. Die Turnstunde kann länger dauern, wenn das erwünscht ist, und im Unterricht können ganz neue Schwerpunkte durch flexiblere Stundeneinteilung gesetzt werden. Und endlich können einfacher externe Experten eingeladen werden. Die Schulen sollen einfach mehr Freiheit bekommen.“
Chalendi pflichtet dem Bundesschulsprecher von der ÖVP-nahen Schülerunion bei. „Und endlich kann der Frontalunterricht durch alternative Lernmethoden abgelöst werden. So werden ganz neue Projekte möglich sein, auch mit einer Klasse einer anderen Schulstufe. Statt über das Sonnensystem zu reden, können wir rausgehen und tatsächlich astronomisch beobachten und Laufbahnen berechnen.“ Gut sei auch zeitliche Flexibilität: „Einen Klettergarten können wir bei einer 50-Minuten-Einheit gar nicht nützen. Jetzt können wir bei jedem Fach prüfen, ob ein längerer Unterricht Sinn macht.“
"Als Vertreter der Schulaufsicht wünsche ich mir einen gelassenen Umgang mit den aktuellen Entwicklungen, die als „Bildungsreform“ bezeichnet werden.
Schule ist nun einmal kein System und kein Lebensumfeld, das man auf Knopfdruck, mit einer „Reform“ verändern kann. Im Zentrum muss immer die Überlegung stehen, was die uns anvertrauten jungen Menschen davon haben, was konkret bei den Schülerinnen und Schülern ankommt. Aber gerade die Konzentration auf die Pädagogik vermisse ich in den derzeitigen Diskussionen und den geplanten Entwicklungen, die sehr stark auf Strukturen konzentriert sind.
Dennoch sehe ich durchaus Chancen für die Schulentwicklung, wenngleich vieles, was jetzt geplant ist nicht wirklich neu ist. Eine Abkehr von starren 50–Minuten-Einheiten, die Blockung von Stunden, die schulautonome Planung von Gruppengrößen oder auch eine Festlegung von veränderten Beginnzeiten für den Unterricht sind auch jetzt schon möglich und seit Jahren an vielen Schulen üblich. Wenn all das in der Abwicklung vereinfacht wird und möglichst viele Schulversuche ohne großen administrativen Aufwand in das Regelschulwesen übernommen werden können, ist das zu begrüßen.
Auch dass Direktorinnen und Direktoren sich ihre Lehrer/innen aussuchen, ist nicht neu. Wichtig wären allerdings Maßnahmen, damit Direktor/innen sich von jenen (sehr wenigen!) Lehrer/innen trennen können, die entweder ihre Arbeit nicht ordentlich machen oder nicht zur betreffenden Schule passen.
Wie im Fußball der Teamchef nur dann die Verantwortung für den Erfolg des Teams übernehmen kann, wenn er sich das Team selbst zusammenstellen kann, ist natürlich auch in der Schule.
Was ich mir gerade für Wien überhaupt nicht vorstellen kann, ist der Zusammenschluss der ohnehin meistens sehr großen Schulen zu „Clustern“. Deshalb hoffe ich, dass die zugesagte Freiwilligkeit auch wirklich eine Freiwilligkeit bedeutet.
Da ja nun das Begutachtungsverfahren zu beginnen scheint, schlage ich vor, dass – wenn schon eine zusätzliche Hierarchieebene eingezogen werden soll – diese statt „oberhalb“ der Direktor/innen „unter“ diesen in Form eines echten „Mittleren Managements“ installiert wird. Das würde den pädagogischen Handlungsspielraum der Schulleitungen wirklich vergrößern.
Bei aller Notwendigkeit, Schulpolitik faktenbasiert zu betreiben, sollte allen Beteiligten klar sein, dass man „gute“ Schulen nicht so leicht in Metern und Sekunden messen kann wie etwa „gute“ Skirennläufer/innen.
Im Vordergrund stehen immer menschliche Beziehungsgefüge, die den größten Einfluss auf das Gelingen des Schulalltags und auf erfolgreiches Lehren und Lernen haben."
„Vieles, was jetzt geplant ist, haben wir uns bereits erkämpft. Wir haben die Klassen- und Gruppengrößen verändert und arbeiten nun in Kleingruppen, was zu weitaus besseren Leistungserfolgen führt. Positiv an der Reform sehe ich, dass wir am Standort entscheiden können, ob wir eine heterogene oder homogene Gruppe bilden. Auch schulstufenübergreifendes Lernen wird jetzt leichter möglich. Das ist nötig, weil die Bandbreite innerhalb einer Schulstufe schon sehr groß ist. Ich kann mich mehr daran orientieren, was für die Kinder gut ist.“
„Ich erhoffe mir von der Reform auch, dass wir bei der Unterrichtsorganisation noch mehr didaktische und pädagogische Freiheiten haben. Derzeit sind z.B. nur neun Schulausgänge pro Jahr erlaubt, das ist nicht einmal einer pro Monat. Wir behelfen uns jetzt, in dem wir dislozierte Projekttage machen und den Unterricht außerhalb der Schule gestalten. Wir gehen z.B. ins Haus der Mathematik oder ins Museum für Schwangerschaft und Verhütung.“ Und: „Das Problem, Lehrer auszuwählen, werden wir nicht haben – wir sind froh, wenn wir jemanden bekommen.“ Einen Wunsch hat Walach: „Ich will nicht entscheiden müssen, ob ich Lehrer oder einen Sozialarbeiter einstelle. Ich brauche beides.“