"2025 zu den Besten gehören"
KURIER: Irland und Portugal haben ihre Hilfsprogramme abgeschlossen, Griechenland will kein neues Hilfspaket – ist die Krise überstanden?
Thomas Wieser: Was hinter uns liegt, ist die Eurokrise als solche. Was nicht hinter uns liegt, ist die Wachstumskrise, die aus der Überschuldung unserer Gesellschaften entsteht. Die nächsten fünf Jahre werden entscheidend sein: Können wir die Reformen herbeiführen, die Europa wieder als Industriestandort und Wachstumspol auf der Landkarte positionieren – oder rutschen wir im Wettbewerb der Globalisierung permanent in die zweite Liga ab.
Was kann ein kleines Land wie Österreich da tun?
Es gibt massiven Spielraum der nationalen Politik, innerhalb des gemeinsamen Rahmens vieles richtig, falsch oder auch gar nicht zu machen. Finnland, ein viel kleineres Land als Österreich, hat gezeigt, wie man ein Weltklasse-Bildungssystem auf die Beine stellt. Schweden, nur ein klein wenig größer als Österreich, hat gezeigt, wie man mit der richtigen Prioritätensetzung Wachstum mit hochqualitativen Arbeitsplätzen schafft. Und dann gibt es Beispiele in die andere Richtung wie Portugal oder Griechenland.
Was muss Österreich tun, damit es Finnland und nicht Griechenland wird?
Griechenland war einzigartig. Wo es aber Parallelen mit vielen Staaten – wie auch Österreich – gibt, ist der Verteilungskampf zwischen Alten und Jungen: Stecken wir unser Geld in Bildung, Ausbildung, hochqualitative Arbeitsplätze – oder in Pensionen inklusive signifikant frühem Antrittsalter? In Österreich ist eine Frage unterbeleuchtet: Was muss ich tun, um das mittel- und langfristige Wachstumspotenzial zu steigern? Damit wir nicht nur nächstes Jahr gut leben können, sondern in fünf, zehn, zwanzig Jahren.
Was ist da der Knackpunkt?
Wir haben eine Unterfinanzierung von
Bildung, Aus- und Weiterbildung – von den Drei- zu den Sechzigjährigen. Ich habe mir kürzlich Struktur, Finanzierung, Leistung und Zugang zu Unis in Bayern und der Schweiz angeschaut – eine andere Welt. Dort wird Qualität gefördert, aber auch gefordert. Damit zusammenhängend muss es zu einer stärkeren Dotierung von Forschung und Entwicklung kommen.
Wer soll das bezahlen?
Weitere Steuererhöhungen scheinen unmöglich. Daher muss man es mit Einsparungen finanzieren. Seit 20 Jahren wird davon geredet, dass man alle Mehrkosten durch Einsparungen in der Verwaltung hereinbringt – eine Schimäre. Der große Klotz ist im Bereich der Pensionen und der Gesundheit: Bei der Neigung zur Frühpension und dem ungleichen Pensionsantrittsalter. Allein damit könnte man ein Bildungssystem auf die Beine stellen, das in der oberen Liga in Europa mitspielt. Das funktioniert aber nur, wenn ich nicht nur mehr Geld verwende, sondern das System ändere. Damit sichergestellt ist, dass hoch qualitatives Personal tätig ist und Qualität belohnt wird.
Eine große Bildungsreform war bis jetzt nicht durchsetzbar. Wie soll sie gelingen?
Man muss ein Narrativ entwickeln. Eine Geschichte, wie Österreich 2025 zu den Besten in Europa gehört. Ich glaube nicht, dass die Österreicher ein Gefühl dafür haben, wohin das Land geht. In einer überzeugenden Geschichte – mit einem Ziel – fügen sich einzelne Reformschritte logischer ein. Wie in einer vernünftigen Architektur: Sie sind Bestandteil eines Hauses – nicht nur ein Ziegelstein, der unmotiviert, wenn auch eventuell am richtigen Platz, auf der Wiese liegt. Bricht man wirtschaftspolitische Probleme zu sehr auf Einzelprobleme herunter, hat man in diesem kleinen Segment oft mehr Verlierer als Gewinner. Je gesamthafter das Problem angegangen wird, desto mehr Gewinner hat man, weil der Kuchen schlicht größer ist.
Trotzdem wird über die Kuchenstücke gestritten.
Man kann bei Verteilungsfragen aus weltanschaulichen Gründen unterschiedlicher Ansicht sein. Aber eine Dimension der Verteilungspolitik ist für eine Gesellschaft tödlich: Dass man den Konsum von heute auf Kosten des Wohlstands von morgen finanziert. Da gibt es keine Ideologie, das ist eine Frage des Anstands gegenüber der nächsten Generation.
Um ein Narrativ, wie Sie es beschreiben, umzusetzen, benötigt es Aufbruchsstimmung. In einem Land, dem es vergleichsweise sehr gut geht, sagt man: Ändern wir lieber nichts.
In großen Teilen der Bevölkerung, vor allem bei denen, die noch in sicheren Arbeitsplätzen logieren oder in Pension sind, ist dieses Gefühl noch nicht angekommen. Aber reden S’ einmal mit einem 20-Jährigen, was der über die Sicherheit seines Arbeitsplatzes sagt. Keiner zweifelt daran, sich in Österreich mit einer Reihe von McJobs über Wasser halten zu können – aber das ist ja kein Ziel! Im Wettbewerb mit China, Indien, Brasilien werden wir nur reüssieren, wenn wir technologisch und bei der Ausbildung einen Schritt voraus sind. Wenn wir uns nicht rasch bewegen, fallen wir zurück. Insofern ist Nicht-Bewegung auch eine Bewegung.
Das heißt: Wenn wir nicht jetzt etwas tun, wird man vielleicht über Österreich irgendwann sagen, was man jetzt über Krisenstaaten sagt: Die haben zu lange mit Reformen gewartet und nichts gemacht.
Bei Griechenland und Portugal war es das Nicht-Entscheiden, und ein bisschen Portugal steckt in uns allen: Die große Gefahr, lange nichts zu tun, weil man das Gefühl hat, heuer geht’s eh noch ganz gut. Die Wirtschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre zeigt auch, dass es nicht von einer höheren Macht gegeben ist, dass Österreich immer ein Land mit Vollbeschäftigung und hohem Wachstum ist.
Ökonomie im Blut
Thomas Wieser wurde 1954 in den Vereinigten Staaten geboren. Sein Vater war ein österreichischer Professor für Biologie, seine aus England stammende Mutter Physiologin. Ökonomen haben in der Familie eine lange Tradition: Zwei seiner Vorfahren, Eugen Böhm-Bawerk und Friedrich Wieser (beide um die Jahrhundertwende tätig), gelten als die Begründer der österreichischen Nationalökonomie. Wieser verbrachte seine Kindheit in Wien, die Jugendzeit in Innsbruck, wo er auch Wirtschaft studierte. Es folgte ein Postgraduate in Colorado und Wien. Wieser ist verheiratet und hat einen Sohn.
(Bild: Mit EU-Ratspräsident Herman van Rompuy)
Karriere als Beamter
1989 begann Wieser seine Laufbahn im Finanzministerium, wo er bis zum Sektionschef aufstieg. In Europa hat er seit Langem einen guten Namen; seit 2012 ist er in Brüssel der erste hauptamtliche Chef-Koordinator der Eurogruppe, dem Gremium der Euro-Finanzminister. Dort wurden in den vergangenen Jahren u. a. die Hilfsprogramme für Griechenland, Irland, Zypern und Portugal besprochen.
(Bild: Mit dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble)
So deftig hat es ein rot-schwarzer Politiker schon lange nicht den Seinen reingesagt: "Wir geben unser Geld völlig vertrottelt aus." Bernd Schilcher, steirischer Spitzenpolitiker a. D. und Ex-Chef der einst von Claudia Schmied installierten Schulreform-Kommission rechnet in einem prominent platzierten Beitrag in der Kleinen Zeitung mit der Regierungsspitze ab: Statt mehr Geld ins Bildungssystem zu stecken, müssen immer mehr Milliarden in die Reparatur der Folgen von Bildungsarmut – wie Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg – fließen. Anlass der Abrechnung: Werner Faymann forderte jüngst mehr Respekt für die Arbeit der Regierung ein. Giftiger Konter Schilchers: "Mehr Respekt – wofür?"
Thomas Wieser, Österreichs mächtigster Strippenzieher hinter den EU-Kulissen in Brüssel, formuliert im KURIER-Gespräch nicht so drastisch, zielt aber punktgenau in die gleiche Richtung: "Wenn wir uns nicht rasch bewegen, fallen wir zurück." Wieser drängt darauf, dass sich die Politik dem "Verteilungskampf zwischen Alten und Jungen" stellt: "Stecken wir unser Geld in Bildung oder in Pensionen inklusive signifikant frühem Antrittsalter?" Dieser dramatische Weckruf an die Regierung verdient nicht nur höchste Aufmerksamkeit, weil Thomas Wieser ein politisches Schwergewicht ist. Als Sektionschef in Wien hat er jahrelang als "graue Eminenz" die Politik des Finanzministeriums geprägt. In Brüssel steuerte er zuletzt als rechte Hand des neuen EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker den Kurs des Euro.
Der KURIER startet mit Wieser eine Serie von Sommer-Interviews, die sich jenseits von Bundeshymne und Binnen-I den wirklich brennenden Fragen widmen. Ganz im Sinne jener, die Respekt gegenüber den Leistungen der zurückliegenden Jahrzehnte einmahnen, steht sie unter dem Motto: "So kann Österreich (noch) besser werden".