In welchen Jobs Menschen mit ADHS, Autismus oder Legasthenie gefragt sind
Von Johanna Hager
Ein schwaches Gefühl für Zahlen? Eine Links-Rechts- oder Lese-Schwäche? Störungen in der Motorik?
Schätzung zufolge liegt bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung Neurodiversität vor. Darunter versteht man neurologische Besonderheiten wie Autismus, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), Legasthenie (Lese-Rechtsschreibstörung), Dyspraxie (Störung der Motorik) oder Dyslexie (Störung der Lesefähigkeit).
"80 Prozent der Autisten und 50 Prozent der Personen mit ADHS haben keinen Job trotz herausragender Fähigkeiten", weiß Anna Katharina Marton von Specialisterne Austria.
Gegründet wurde die Specialisterne Foundation 2004 in Dänemark von Thorkil Sonne. Derzeit ist Specialisterne (dänisch: Spezialisten) in mehr als 14 Ländern tätig. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen aus dem sogenannten neurodivergenten Spektrum Jobs vermitteln.
Die Drop Out-Quote am Arbeitsmarkt beträgt nach Absolvierung der "Talent Days" 4 Prozent, sagt Specialisterne Austria Geschäftsführerin Marton im KURIER-Interview. Was Menschen mit Zahlenschwierigkeiten besonders gut können und was Arbeitgeber bei Stelleninseraten insbesonders beachten sollten.
Autismus: 90.000 Personen. Von 100 Prozent der Menschen im Autismus-Spektrum sind 44 Prozent als schwerbehindert eingestuft – also für den ersten Arbeitsmarkt wenig relevant. Weitere 44 Prozent sind in Tageseinrichtungen oder Werkstätten. Von diesen 44 Prozent sind 10 Prozent für den ersten Arbeitsmarkt geeignet. 12 Prozent der Autisten gelten als "hochfunktional“ d.h. sie brauchen relativ wenig Unterstützung im Alltag.
ADHS: 360.000. Personen können sich besonders gut fokussieren und assoziieren, geraten dadurch auch in einen starken Flow-Zustand. Sie verfügen über eine rasche Auffassungsgabe, sind multitaskingfähig und enorme Teamplayer.
Legasthenie: 360.000 Personen. Legastheniker haben eine links-rechts-Schwäche, Rechtschreib- oder Leseschwäche, dafür ein ausgeprägtes Vorstellungsvermögen im dreidimensionalen Raum und taktisches Denkvermögen.
Dyskalkulie: 450.000 Personen. Die Menschen haben oft ein schwaches Zahlengefühl, können beispielsweise schlecht Kopfrechnen – was aber nicht heißt, dass ein Mathematik-Studium für sie nicht infrage kommt. Sie verstehen hochkomplexe Formeln und Hochrechnungen, aber haben hingegen kein Gefühl für Zahlen oder Kopfrechnen
Dyspraxie: 270.000 Personen. Menschen haben Störungen in der Motorik. Dyspraxie ist vergleichsweise wenig erforscht. Typischerweise ist nicht nur Motorik betroffen, sondern auch das Lernen neuer Vorgänge. Oft ist der Zugriff auf das kinetische Arbeitsgedächtnis, also die konkreten Bewegungen, beeinträchtigt, was vor allem geplantes Handeln und Umsetzen erschwert. Typische Stärken sind dagegen Hartnäckigkeit, kreatives Denken und besondere Empathie und Verständnis für Mitmenschen, ein Blick fürs Wesentliche und eine hohe Arbeitsethik.
KURIER: Was zeichnet neurodivergente Menschen aus?
Anna Katharina Marton: Man könnte sagen, dass die Gehirne von Neurodivergenten anders verdrahtet sind. Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie und Dyspraxie zählen zum neurodivergenten Spektrum ebenso wie Schizophrenie, intellektuelle Hochbegabung, Hypersensibilität oder Tourette. Das heißt: Gemäß Schätzungen liegt bei 15 bis 20 Prozent Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder Dyspraxie vor – also bei 1,4 Millionen Menschen in Österreich. Man spricht von einer Dunkelziffer von rund 50 Prozent. Die Hälfte der Personen im neurodivergenten Spektrum im erwachsenen Alter haben keine Diagnose.
Woran erkenne ich Dyskalkulie?
Die Menschen haben oft ein schwaches Zahlengefühl, können beispielsweise schlecht Kopfrechnen – was aber nicht heißt, dass ein Mathematik-Studium für sie nicht infrage kommt. Sie verstehen hochkomplexe Formeln und Hochrechnungen, aber haben hingegen kein Gefühl für Zahlen oder Kopfrechnen.
Sind mehr Männer oder Frauen neurodivergent?
Das Verhältnis dürfte ausgewogen sein. Allerdings sind rund 80 Prozent der autistischen Frauen (und mit ADHS) nicht diagnostiziert. Das ist bei Autismus und ADHS u.a. auf gesellschaftliche Normen und Vorstellungen zurückzuführen. Ein Bub, der nicht Fußball spielt oder kein Lausbub im klassischen Sinn ist, sondern eher introvertiert ist, fällt zum Beispiel eher auf als ein introvertiertes Mädchen. Außerdem verfügen Mädchen oft über eine höhere soziale Kompetenz und können sich schneller und besser anpassen – und ihren Autismus/ADHS somit häufiger verbergen.
Was meinen Sie damit konkret?
Bei Autismus und ADHS gibt es viele Mädchen und Frauen, die unentdeckt sind. Mädchen gewöhnen sich leichter stereotype Mimik oder Verhalten an, das es dem Umfeld leichter macht, mit ihnen umzugehen – und damit auch schwerer, die Neurodivergenz zu erkennen.
Lässt sich eine Diagnose mit Tests herausfinden?
Es gibt ein paar Tests, die rund 50 Fragen umfassen, und mehr oder weniger eine aussagekräftige Tendenz zeigen. Wichtig ist immer das persönliche Gespräch mit Experten. Eine ADHS-Diagnose ist im Kindesalter beispielsweise viel leichter feststellbar als im Erwachsenenalter, weil man bei Kindern langjährige Beobachter wie Eltern, Geschwister oder Lehrer hinzuziehen kann. Je älter man wird desto schwieriger ist es, valide Außenperspektiven zu bekommen.
Wie kommen Neurodivergente in den Arbeitsmarkt?
Eines muss ich vorausschicken: 80 Prozent der Autisten und 50 Prozent der Personen mit ADHS haben keinen Job trotz herausragender Fähigkeiten. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Stellenausschreibung. Manche Jobbeschreibungen sind zu wenig explizit formuliert, andere Details hindern daran, sich zu bewerben.
Welche Formulierung ist bei der Bewerbung hinderlich?
"Zwei Jahre Berufserfahrung“ zum Beispiel. Ein durchschnittlicher Bewerber mit 18 Monaten Berufserfahrung wird sich bewerben – ein Autist nicht, weil er die Vorgabe als Pflicht sieht. Das Bewerbungsgespräch ist oft ein weiteres Kriterium. Als Software-Tester muss ich nicht zwingend charmant und eloquent in meiner Selbstpräsentation sein, aber genau das wird im Bewerbungsgespräch oft verlangt. Stattdessen wäre ein Probetag oder eine konkrete Aufgabenstellung, um zeigen zu können, was man kann und verlangt wird, viel aussagekräftiger.
Das heißt, sprachliche Kenntnisse sind für Autisten eher ein Handicap?
Nein: Einige Autisten können sich verbal wirklich gut ausdrücken, anderen fällt mündliche Sprache und über sich selbst zu sprechen schwerer. Manche stottern auch, doch in schriftlicher Form können sie oft innerhalb kurzer Zeit viel Information besonders gut ausdrücken.
Was können Autisten besonders gut?
Sie haben einen Fokus wie ein Laserstrahl, eine hohe Konzentrationsfähigkeit und hohe Toleranz gegenüber monotonen Tätigkeiten. Das heißt, sie können lange an repetitiven Aufgaben arbeiten, ohne dabei ungenau oder gelangweilt zu sein. Außerdem sind viele AutistInnen besonders begabt in der Muster- und Fehlererkennung. Diese Stärken können sie vor allem in den Bereichen IT, Software und Informatik, Arbeiten im Lektorat, der Forschung oder im Qualitätsmanagement gut einsetzen
Ist es für Menschen mit ADHS leichter, einen Job zu finden?
Im Bewerbungsprozess können sie leicht überzeugen, weil ihnen soziale Interaktion leichter fällt. Fälschlicherweise glaubt man, Menschen mit ADHS könnten sich schwerer oder nicht konzentrieren. Wenn es ein Thema gibt, für das eine Person mit ADHS brennt, kann sie einen Hyperfokus entwickeln und wie in einem Flow arbeiten.
Welche Branchen sind für ADHS prädestiniert?
Investigativ-Journalismus zum Beispiel. Es geht darum, sich in ein Thema zu vertiefen, alles bis ins kleinste Detail recherchieren und den roten Faden finden zu wollen. Personen mit ADHS brauchen allerdings immer Feedbackschleifen und Deadlines. Die Fähigkeiten von Personen mit ADHS sind in der Software- und IT-Entwicklung ebenso gefragt wie in Bereichen der Wissensvermittlung wie Trainer oder Lehrer. Aufgrund der schnellen Auffassungsgabe, ihrem klaren Kopf in Notsituationen und ihrem guten Überblick sind sie oft auch als Notfallmediziner, Rettungssanitäter oder der Produktentwicklung oder Qualitätsmanagement tätig.
Was kann Specialisterne konkret für Neurodivergente tun?
Man bewirbt sich für unsere Talent Days, die rund 2,5 Wochen dauern. Diese beinhalten Tests, die analytisches und logisches Denken, Lösungsstrategien und Mustererkennung prüfen. Auf Basis dieser Tage und von Gruppen-Übungen wird eine Skill Card erstellt, die auf einen Blick herausragende Fähigkeiten ebenso dokumentiert wie die Bedürfnisse, die die Person hat.
Welche Bedürfnisse meinen Sie?
Es geht z.B. um Reize wie Lärm oder Lichtempfindlichkeit, die die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können und verstärkt wahrgenommen werden. Manche Personen im Spektrum benötigen beispielswiese Noise Cancelling Kopfhörer oder Sonnenbrillen, um sich bei der Arbeit konzentrierten zu können. Wer die Talent Days absolviert, aber noch keine adäquate Ausbildung hat, der kann einen unserer von WKO und AMS geförderten Kurse für Software-Testing, Data-Science, Qualitätsmanagement oder einen Vorbereitungskurs für eine IT-Lehre absolvieren.
Wie viele Menschen schaffen die Tests nicht oder schmeißen den Job hin?
50 Prozent schaffen die Talent Days nicht. Die Fachkurse bestehen nur 10 Prozent nicht, die Drop Out-Quote am Arbeitsmarkt selbst beträgt nur 4 Prozent. Wir betreuen den gesamten Bewerbungsprozess, schulen das Unternehmen und begleiten Arbeitgeber wie -nehmer mindestens ein halbes Jahr. Specialisterne ist zu 92 Prozent eigenfinanziert. Unternehmen wie Magenta, Bank Austria, RBI, BRZ, KPMG, Accenture oder DM rekrutieren mit uns herausragende Talente im neurodivergenten Spektrum.