Harald Mahrer: „Das wird kein Kindergeburtstag“
Von Johanna Hager
KURIER: Sie sind im Mai Christoph Leitl als Wirtschaftskammerpräsident gefolgt, seit einem Monat an der Spitze des Wirtschaftsforschungsinstituts. Wie geht es Ihnen als Präsident?
Harald : Großartig. Ich bin für mich in der genau richtigen Rolle angekommen. Die Gewerkschaft hat uns einen heißen Herbst versprochen, jetzt haben wir mal einen heißen Sommer.
Im Juli sank die Arbeitslosigkeit um acht Prozent, im EU-Arbeitsmarktranking ist Österreich aber nur auf dem 9. Platz. Woran liegt das?
Die Arbeitslosenrate sollte auf das Vorkrisenniveau 2008 sinken. Verantwortlich für die Arbeitslosenrate von 6,9 Prozent sind einerseits andauernde Strukturveränderungen in der Wirtschaft. Andererseits müssen wir Angebot und Nachfrage besser zusammenführen, um die über 282.000 Arbeitslosen in Beschäftigung zu bringen.
Wo hakt es am Arbeitsmarkt?
Wir haben derzeit zwar 85.000 Menschen mehr in Beschäftigung als im Vorjahr, doch uns fehlt es an qualifizierten Mitarbeitern. Das wird zu einer Zukunftsfrage des Landes – mehr noch: Unser Wohlstand ist mittelfristig gefährdet, wenn wir nichts ändern. Als ich noch Wirtschaftsminister war, haben zwei Drittel der Unternehmen gesagt, sie spüren den Fachkräftemangel. Heute sind es 87 Prozent. 60 Prozent haben Umsatzeinbußen, weil sie Aufträge nicht annehmen können, weil sie dafür kein qualifiziertes Personal bekommen. 49 Prozent fehlen deshalb die Mittel, um Innovationen zu finanzieren.
Wie wollen Sie dem augenscheinlich eklatanten Mangel entgegenwirken?
Wir brauchen kurzfristig jedenfalls Transparenz: In welcher Branche, in welchem Bundesland, bis auf den Bezirk heruntergebrochen, habe ich Fachkräfte, die Arbeit suchen, und spiegelgleich, wo ist der akute Bedarf. Wir werden ein Monitoring-Instrument einführen und diese Daten auch der Regierung zur Verfügung stellen. Wir haben bereits einige Testergebnisse und die zeigen ganz andere Bilder als wir sie erwartet haben. Alarmierende Bilder. Das wird kein Kindergeburtstag.
Was wird kein Kindergeburtstag?
Ich will die genauen Daten, die noch im August vorliegen, abwarten. So viel kann ich schon verraten: Es wird ein sehr großer Bedarf da sein und ein starkes Ost-West-Gefälle geben. Das heißt, wir haben österreichweit Fachkräfte, nur eben nicht an den Orten, wo sie gebraucht werden. Es wird mittelfristig auch um die Mobilisierung der Arbeitskräfte gehen.
Von wie vielen fehlenden Fachkräften gehen Sie aus?
Ich kenne vorerst nur die Detailzahlen aus Deutschland. Dort werden 440.000 Fachkräfte benötigt. Die deutsche Wirtschaftsleistung wäre 30 Milliarden Euro höher, gäbe es diesen Fachkräftemangel nicht. Im August sollten erste österreichische Zahlen vorliegen. Wir müssen jedenfalls in den nächsten drei bis fünf Jahren zu den Innovationsländern zählen. Asien boomt, China, Indonesien oder Vietnam prosperieren, der indische Premier will bis 2023 alle Inder an das Stromnetz bringen. Man überlege sich, was es heißt, wenn plötzlich eine Milliarde Menschen mehr Zugang zu Strom hat. Das ist ein unglaublicher Markt, von dem auch wir profitieren können.
Ihre Nachfolgerin, Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, hat im KURIER-Interview erklärt, der Fachkräftemangel solle insbesondere durch Ältere und Frauen wettgemacht werden. Zudem dürfe die Lehre in den betroffenen Branchen keine Hintertür für Asylwerber sein. Eine begonnene Ausbildung dürfe keine Auswirkungen auf das Bleiberecht haben.
Ich verstehe die höchstpersönliche Betroffenheit von Lehrlingen und Betrieben zu 100 Prozent. Doch ein Asylwerber in Lehre, der einen negativen Bescheid bekommt, muss behandelt werden wie jeder andere mit einem negativen Bescheid. Das ist die derzeitige Rechtslage und Recht muss Recht bleiben, denn sonst machen wir bei jedem Gesetz eine Ausnahme aufgrund persönlicher Schicksale – so tragisch und nachvollziehbar diese im Einzelfall sind und so sehr ich dies bedauere.
Können Sie dem „3 plus 2 Modell“, wonach Asylwerber nach abgeschlossener Lehre noch zwei Jahre in dem Beruf arbeiten dürfen, ehe das Asylverfahren entschieden wird, etwas abgewinnen?
Fachkräfte-Zuwanderung und Asyl sind zwei unterschiedliche Themen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass man aufpassen muss, keinen Pull-Faktor zu kreieren. Es braucht konzise Politik. Das heißt: Wir sollten alles dafür tun, dass wir eine Fachkräfte-Zuwanderung haben, die wir bestimmen. In der Asylfrage sind kürzere Verfahren wichtig. Aber das Thema ist in der gesamten Diskussion um den Fachkräftemangel nur ein Minithema.
In Österreich gibt es derzeit 15.833 offene Lehrstellen.
Für das duale Ausbildungssystem beneiden uns andere Länder, weil es in wunderbarer Weise Theorie und Praxis kombiniert: Ich lerne und trainiere meine Fertigkeiten und bin sofort in der Lage, in diesem Beruf tätig zu werden. Das alles stammt aber aus der vordigitalen Zeit. Ich muss mir heute überlegen: Welche Fertigkeiten brauche ich im jeweiligen Berufsbild? Wie verändern sich die Anforderungen und kann ich digitale Möglichkeiten nutzen, diese Anforderungen und Fertigkeiten zu vermitteln?
Welche digitalen Möglichkeiten meinen Sie?
Die jungen Menschen nutzen die digitalen Endgeräte wie Handys, um Essen oder Kleidung zu bestellen, Netflix zu schauen, sich zu informieren und zu kommunizieren. Sie sind ständig online und mit den Technologien wesentlich vertrauter als ältere Menschen. Daher eignet sich der digitale Kanal bestens für die Wissensvermittlung. Das wollen wir massiv ausbauen und so eine triale Ausbildung schaffen. Coding beispielsweise soll ein eigener Lehrberuf werden. Bis die ersten Coder ausgebildet sind, vergehen aber drei Jahre. Diese mittelfristige Strategie müssen wir allerdings jetzt beginnen.
Die wenigsten wissen, was Coder überhaupt machen.
Programmierer als Lehrberuf wirkt vielleicht für viele wie eine Kür, aber ohne Kür keine Zukunft. Wir werden unseren Wohlstand nicht erhalten können, wenn wir es nicht in die Gruppe der führenden Innovationsländer schaffen. Wenn wir nur unser Pflichtprogramm abspulen, dann können wir in Österreich das Licht abdrehen.
Wird es einige Berufe à la longue nicht mehr geben?
Es ändert sich das Fertigkeitsportfolio – in dem einen Beruf mehr, im anderen weniger –, aber es werden sich alle Berufe jedenfalls verändern. Möglicherweise wird man bei einem Friseur in Zukunft ein digitales Scanner-Tool haben, ähnlich einem Spiegel. Der Friseur drückt auf einen Knopf und via Hologramm werden einzelne Frisuren auf mich projiziert. So, dass ich sehe, wie die neue Frisur aussehen könnte. An der Tätigkeit des Friseurs mit waschen, schneiden, föhnen ändert sich nichts. Aber er kann eine neue Serviceleistung anbieten. Dieses Scanner-Tool gibt es übrigens schon.
Eben diese Tools machen vielen auch Angst. Denn im nächsten Schritt, in einem anderen Beruf, können Roboter menschliche Arbeit ersetzen und so Menschen Jobs wegnehmen.
Auch für Roboter oder künstliche Intelligenz braucht es Menschen, die diese bauen und sie trainieren. Pflegeroboter, die es bereits gibt, werden von Menschen programmiert. Der Mensch bekommt Unterstützung, wird aber niemals ersetzt werden. In der Medizin schafft die künstliche Intelligenz viel präzisere Diagnosemöglichkeiten, da Millionen Datensätze verglichen werden können. Die Diagnose selbst und die Behandlung legt aber immer noch der Arzt fest.
Mit all dem geht ein unglaublicher Kultur-, Bewusstseins- und Gesellschaftswandel einher. Ist es nicht auch eine Mentalitätsfrage…
Wir sind in Österreich zu all dem fähig. Allein in der Tourismuswirtschaft zeigt sich, wie gut wir sind. Die allerersten Buchungsplattformen weltweit sind in den 1990ern in Österreich entstanden. Leider haben die Anbieter das Tool nicht global umgesetzt. Kreativität steckt uns im Blut, ist Teil der Österreich-DNA. Das Land war in der Gründerzeit nicht umsonst führend. Heute sitzt die Konkurrenz in Fernost. Das ist der dramatische Unterschied. China hat 1,4 Milliarden Menschen, Indien 1,3 Milliarden, Indonesien 280 Millionen Menschen. Dort steigt die Zahl des kaufkräftigen Mittelstandes. Allein in China wird sich die Zahl derer, die ordentlich Geld ausgeben können, in fünf Jahren von 250 auf 500 Millionen verdoppeln. Die Chinesen sind erfolgshungrig und sie schlafen nicht. Sie werden Entwicklungen, für die wir einige Jahre gebraucht haben, einfach überspringen.
Orts- und Themenwechsel. Vor dem Eingang zur WKO prangt ein Plakat gegen den 12-Stunden-Tag.
Ich freue mich jeden Tag, wenn ich das Plakat sehe. Es erinnert mich, dass ein wesentlicher Punkt des Regierungsprogramms jetzt umgesetzt wurde. Wir tragen damit auch dem Wunsch vieler Betriebe Rechnung, die Flexibilität und Rechtssicherheit wollten. Wir haben damit, und das wird oft außer Acht gelassen, einen Arbeitsrahmen geschaffen, um mit der Dynamik der internationalen Märkte mithalten zu können. 6 von 10 Euro der Wertschöpfung österreichweit hängt am Export. Die Arbeitszeitflexibilisierung ist essenziell, um Auftragsspitzen abdecken zu können. Ich kenne viele, die sich über die Wahlmöglichkeit – mehr Geld oder mehr Zeit – freuen.
Die Gewerkschaft, die die Freiwilligkeitsgarantie des 12-Stunden-Tages massiv bezweifelt, sieht das anders. Über 100.000 Demonstranten Ende Juni waren derselben Meinung. Bereuen Sie eigentlich das WKO-Video und den Song für die Arbeitszeitflexibilisierung, die insbesondere im Internet für Furore und Furor gesorgt haben? Über Stilistik lässt sich immer streiten. Ich bin massiv an einem hohen sozialen Frieden interessiert und war bereits in der Regierung ein Brückenbauer. Das ist auch das, was die Österreicher wollen. Sie wollen das Verbindende, sie wollen kein Streiten in der Regierung. Daher rührt auch der ungewöhnlich hohe Zuspruch, den die neue Regierung hat. Die Sozialpartner müssen sich ebenso weiterentwickeln und das tun sie auch. AK-Präsidentin Anderl, Gewerkschaftschef Katzian, Landwirtschaftskammerpräsident Moosbrugger und ich haben eine sehr gute Gesprächsbasis und sind uns einig, dass wir ein großes Augenmerk auf den sozialen Frieden und den sozialen Ausgleich zu legen haben.
Wenn sich alle einig sind, warum hat die Regierung dann auf die öffentliche Begutachtung verzichtet?
Ich bin ein Freund der korrekten Interpretationen. Soweit ich weiß, haben die Regierungsparteien eine Ausschussbegutachtung angeboten. Als ehemaliger Regierungskoordinator kann ich Ihnen sagen: das ist alles andere als ein unübliches Tool. Es ist unbestritten so, dass alle Parteien sich darauf hätten einigen können, die Materie im Ausschuss zu begutachten. Doch das ist diesmal eben nicht passiert. Ich verstehe die Aufregung nicht ganz. Weg mit der Polemik und den Drohungen, hin zu einer sachlichen, fundierten Zusammenarbeit. Unter Abwägung aller Interessen.
Ihnen wird unterstellt, die Interessen des Kanzlers zu vertreten, Sebastian Kurz’ verlängerter Arm zu sein.
Wir freuen uns, dass die Regierung eine wirtschaftsfreundliche ist, aber wir werden sie wie jeden anderen Stakeholder in dieser Republik an ihrer Arbeit messen. Und wir werden darauf hinweisen, wenn die Regierung irgendwo falsch abbiegt. Mein Wunsch ist, dass der Kanzler und die gesamte Regierung das große Ganze immer im Auge haben. Auffassungsunterschiede werden wir, wenn notwendig, auf sachlicher Ebene besprechen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es der Politik einträglich ist, in den Dialog zu treten, statt egoistische Eigen-PR zu betreiben und in den Medien herumzubrüllen.
Wo verbringen Sie Ihren Sommerurlaub?
Mehrheitlich bei den Salzburger Festspielen. Ich werde heute Abend „Pique Dame“ sehen, von Teodor Currentzis dirigierte Beethovens Neunte die von den Pfingstfestspielen übernommene „L'italiana in Algeri“ mit Cecilia Bartoli und die „Salome“.
Welche Lektüre nehmen Sie in den Urlaub mit? Haben sie schon ein besonderes Buch im Auge?
Ich lese gerade von Alain de Botton „Versuch über die Liebe“. Ein Philosoph, der auch das berühmte Buch „Statusangst“ geschrieben hat, aus dem ich gerne zitiere.
Was ist Ihr bevorzugterSommer-Drink?
Gin-Tonic, wobei mein Lieblingsgin der Gin Mare von der spanischen Costa Dorade ist mit einem Fever Tree Mediterranean Tonic.
Schreiben Sie im Urlaub Kurznachrichten oder Postkarten?
Ich schreibe im Urlaub Bücher. Mein nächstes Buch ist gerade im Entstehen.
Zur Person: Der gebürtige Wiener (Jg.1973) und promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschafter war in der Unternehmensberatung tätig (u.a. Geschäftsführer von Pleon Publico) ehe er in die Politik ging. Von 2014 – 2017 war er Staatssekretär für Wissenschaft, Forschung u. Wirtschaft, nach dem Rücktritt von Vizekanzler Mitterlehner Wirtschaftsminister. Seit Mai 2018 ist der Star Wars-Fan Präsident der Wirtschaftskammer. Mahrer ist verheiratet und lebt in Wien und Spittal an der Drau.