Gesamtschule: Wenn alle gemeinsam lernen
Von Ute Brühl
Jahrzehntelang war die ÖVP die Hüterin des Gymnasiums. Die Gesamtschule wurde verächtlich als „Eintopfschule“ tituliert. Doch die Mauer der Ablehnung bekommt immer mehr Risse. ÖVP-Politiker aus dem Süden und Westen fordern „Schluss mit der Denkblockade“ und wollen in Modell-Regionen die Gesamtschule einführen. Doch was versteht man darunter überhaupt? Welche Voraussetzungen sind nötig, damit diese Schulform funktioniert? Experten beantworten die wichtigsten Fragen.
Was versteht man unter einer Gesamtschule?
Besuchen alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren den selben Schultyp, spricht man von einem Gesamtschulsystem. Das Gymnasium gibt es nur in der Oberstufe. Finnland, Großbritannien oder Frankreich haben z. B. eine Gesamtschule. Welches System ein Land hat, hat laut Bildungsforscher Stefan Hopmann historische Gründe: „Länder, die die Schulpflicht früh eingeführt haben, haben ein differenziertes System. In Österreich wollte Maria Theresia verschiedene Schulen für die einzelnen Stände.“
Ist die Neue Mittelschule eine Gesamtschule? Gibt es Unterschiede zur Hauptschule?
So lange es das Gymnasium in der Langform gibt, hat Österreich ein differenziertes Schulsystem. Dennoch ist die Hauptschule nicht mit der NMS ident: In der Mittelschule unterrichten Hauptschul- sowie AHS-Lehrer gemeinsam und stehen in den Hauptfächern zu zweit in der Klasse. Das Problem: Für die NMS finden sich häufig nicht ausreichend AHS-Lehrer. Leistungsgruppen gibt es in den NMS nicht mehr, denn Schüler unterschiedlicher Begabung sitzen in einer Klasse. Durch differenzierten Unterricht soll gewährleistet werden, dass jedes Kind nach seiner Begabung gefördert wird.
Was bedeutet der Begriff Team-Teaching? Was heißt Binnendifferenzierung?
„Team-Teaching bedeutet nicht, dass zwei Lehrer in einer Klasse stehen“, sagt Bildungsforscher Hopmann. „Es heißt vielmehr, dass ein Lehrerteam für eine Klasse bzw. Schulstufe verantwortlich ist. Es entscheidet, wie der Unterricht organisiert wird und wie die Ressourcen verteilt werden“. Im Alltag heißt das: Schüler lernen teilweise in Kleingruppen, was personalintensiv ist, danach gibt es Frontalunterricht in großen Gruppen. „Das Lernen wird effizienter und man kann mehr auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen eingehen, also binnendifferenzieren.“
Welche Voraussetzungen braucht es, damit eine Gesamtschule funktioniert?
Ohne Binnendifferenzierung funktioniert die Gesamtschule also nicht. Dazu ist es aber notwendig, die Schulen in die Autonomie zu entlassen. Darauf weist Heidi Schrodt, ehemalige AHS-Direktorin und Gesamtschulbefürworterin hin: „Wenn man die gemeinsame Schule einführt, und sie nicht mit neuen Inhalten füllt, ändert sich gar nichts“, prophezeit sie. Was muss also passieren? „Vor Ort müssen die Lehrer über die Unterrichtsform und -einteilung entscheiden können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man die Lehrerausbildung massiv verbessert.“ Weiters: Eine gute gemeinsame Schule könne nur eine Ganztagsschule sein, ist Schrodt überzeugt. „Zudem muss es für Schüler aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien mehr Ressourcen geben, damit man auf ihre Defizite gezielter eingehen kann.“
Was ist eine Modellregion?
In einer Region gibt es ausschließlich die Gemeinsame Schule, das Gymnasium gibt es dort nur noch in der Oberstufe. Politisch diskutiert wird derzeit, Bundesländer wie Salzburg, Tirol oder die Steiermark zu solchen Regionen zu machen. Ähnliche Versuche gab es z. B. im deutschen Bezirk Wetzlar. Bildungsforscher und Gesamtschulbefürworter Helmut Fend hat das Projekt wissenschaftlich begleitet. Er schreibt am Ende: „Selten hat mich das Ergebnis meiner Forschungen so überrascht und enttäuscht wie diesmal: Die Gesamtschule schafft nicht mehr Bildungsgerechtigkeit als die Schulen des gegliederten Systems.“
Heißt Gesamtschule, dass dann jede Schule das gleiche Leistungsniveau hat?
„Nein“, sagt Heidi Schrodt. „Es darf durchaus Unterschiede zwischen den Standorten geben.“ Wichtig ist sei nicht, dass alle das gleiche Leistungsniveau erreichen, sondern dass gewährleistet ist, dass „alle einen Mindeststandard erreichen. Wie dieser aussieht, müsste das Ministerium definieren.“ Natürlich brauche es eine Form der Qualitätssicherung: „Die muss über eine funktionierende Kontrolle der Schulbehörden gesichert werden.“ Dass in Ländern wie Dänemark oder Finnland die Unterschiede von Standort zu Standort enorm sein können, weiß Stefan Hopmann: „In Finnland haben Schulen Schwerpunkte wie Musik, bilingualer Unterricht etc. Die Schüler müssen eine Aufnahmeprüfung machen, was zur sozialen Trennung führt. Denn welches Kind spielt schon ein Instrument?“