Eine Auschwitz-Überlebende bewegt
Von Johanna Hager
Einen "traurigen Appell" nennt Die Welt das 4,47 Minuten lange Video. "Holocaust-Überlebende mischt den Wahlkampf in Österreich auf", attestiert die Süddeutsche. "Entscheidet Oma Gertrude die Ösi-Wahl?", mutmaßt Bild. Die Videobotschaft einer 89-jährigen Wienerin auf der Facebook-Seite von Alexander Van der Bellen gereicht im Wahlkampf-Finish zum Gesprächsthema Nummer Eins. Bringt knapp drei Millionen Klicks in vier Tagen und politische Gegner in Rage. "Das wohl übelste Hetzvideo, das jemals in diesem Land von einer Partei produziert wurde" – postet die FPÖ Radenthein. "Schmutzkübelkampagne von der VdB-Truppe" – nennt es ein KURIER-Leser.
"Die Beleidigungen anderen gegenüber, das Runtermachen, das Schlechtmachen, das stört mich am allermeisten", so beginnt Frau Gertrude ihr Video und damit ihre Kritik. "Das Niedrigste aus dem Volk herausholen und nicht das Anständigste", das sei schon einmal der Fall gewesen. "Es haben sich die Leute hingestellt und wie die Juden die Straßen reinigen mussten, sind die Wiener gestanden, Frauen und Männer, haben zugeschaut und gelacht." Eben das versuche man aus den Menschen wieder herauszuholen im Zuge des Hofburg-Wahlkampfes.
"Das schmerzt"
Genau "das schmerzt" Frau Gertrude, die Mitte November an das Team Van der Bellen herangetreten ist, um sich für ihn als Kandidaten auszusprechen. Warum? Weil er derjenige sei, "der überlegt", "reifer und vernünftiger" sei. Bei Norbert Hofers Slogan "So wahr mir Gott helfe" sei ihr die Falschheit bewusst geworden. "Als Strache das Wort Bürgerkrieg gesagt hat, da ist es mir kalt den Rücken geronnen." Gertrude hat als 7-Jährige einen Bürgerkrieg erlebt, wie sie erzählt, Tote gesehen. Es sollten nicht die letzten sein. Sie ist zehn als Hitler in Österreich einmarschiert. Obwohl die jüdische Familie Jahre zuvor auf Geheiß des Vaters katholisch getauft wird, muss sie fliehen. Über zwei Jahre dauert die Flucht über Italien , die 1944 in Auschwitz endet. Gertrude überlebt sieben Monate im Konzentrationslager – ihre Familie nicht.
Der Vorwurf, ihr Schicksal sei "billige linke Propaganda" oder gar für die zweite Stichwahl fingiert, ist haltlos. Die Radiojournalistin Marlene Groihofer hat das Leben von Frau Gertrude nachgezeichnet. Ihr Beitrag "Die Einzige, die überlebt hat" wurde im März 2016 zweifach prämiert. Darin sprach die Holocaust-Überlebende über die Zwangsarbeit während des Kriegs in einer Lampenfabrik, das Bauen von Panzergräben in Hamburg und den Weg über Dänemark und Schweden 1947 zurück nach Wien. Hier arbeitete die Mutter einer Tochter als Büroangestellte. Der 4. Dezember ist "für mich wahrscheinlich die letzte Wahl", sagt Frau Gertrude und mahnt, wählen zu gehen.