Politik/Inland

Die Schule geht kaputt - doch sie pokern weiter

„Fast geil“ fand Harald Mahrer im November – damals noch als ÖVP-Staatssekretär – die Pläne zur Bildungsreform. Er und seine Mitverhandlerin, SPÖ-Ministerin Sonja Hammerschmid, posierten in glückseliger Einigkeit für die Kameras.

Für die beiden hätte es gestern ein großer Tag werden sollen. Der Tag, an dem ihr gemeinsames Projekt nach jahrelangen, ermüdenden Verhandlungen innerhalb der Koalition, mit den Vertretern der Länder, mit der Gewerkschaft und zuletzt auch mit der Opposition endlich im Nationalrat hätte beschlossen werden sollen.

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Aus der Traum. „Mahrer hat die Bildungsreform getötet“, heißt es aus Hammerschmids Büro gegenüber dem KURIER. Zu diesem Befund kam Hammerschmid nach einem Treffen mit Mahrer Mittwochnachmittag, bei dem er einmal mehr betonte, dass es keine Einigung gibt.
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Offenbar will man aber doch nicht für das Scheitern des Mammutprojekts verantwortlich sein, weshalb Mahrer am Abend wieder zurückrudert: Jetzt lädt er die SPÖ zu einem „Bildungsgipfel“ ein. Die Diskrepanzen sollen mit dem SPÖ-Kanzler und dem Vizekanzler (der allerdings parteifrei ist) ausgeräumt werden, schlägt Mahrer vor.

Die SPÖ winkt ab: Der fertige Entwurf für das Bildungspaket liege seit Monaten fertig am Tisch. „Wir brauchen eine Finalisierung und keine Inszenierung“, betont Hammerschmid. Nachsatz: „Meine Tür steht jederzeit offen.“

Tauschhandel

Was war passiert?

Am Dienstag ging man davon aus, dass die nötige Zweidrittelmehrheit dank Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen im Parlament zustande kommt.
Dann kam Mahrer. Und brachte die Uni-Reform aufs Tapet. Die ÖVP wolle ein Paket „von der Elementarpädagogik bis zur Hochschule“, erklärte er am Dienstagnachmittag – eine Junktimierung, die er selbst nicht Junktimierung nennen will. Interpretiert wurde es mindestens als Tauschhandel: Schulreform nur für Uni-Reform.

Mahrer, der das Schulpaket federführend für die ÖVP verhandelt hatte, erklärte seine Zurückhaltung damit, dass er „keine Schnellschüsse“ wolle, es gehe hier um „die Kinder, die Zukunft des Landes“. Dagegen könnte man einwenden, dass es seit Dezember 2015 eine prinzipielle Einigung zwischen SPÖ und ÖVP gibt.

Inhaltlich argumentiert Mahrer damit, dass der Volkspartei noch wesentliche Bausteine fehlen würden, etwa wie die Schulaufsicht künftig gestaltet werden soll.

Auch mit der Forderung der Grünen nach Modellregionen für die Gemeinsame Schule in Vorarlberg ist man nicht glücklich. Dieses Zugeständnis ist notwendig, um die Zweidrittelmehrheit zu erreichen.

Der SPÖ stößt sauer auf, dass die ÖVP die Bildungsreform unangekündigt mit einer Einigung über neue Zugangsbeschränkungen im Uni-Bereich verknüpfte. Für diesen Reformblock war im Regierungsprogramm vereinbart, dass bis Ende Juni ein Entwurf vorliegt, der im Oktober beschlossen werden soll. Durch die Neuwahl hat sich der Plan eben geändert.

„Vertrauensbruch“

In den westlichen Bundesländern wird der Schwenk der Bundes-ÖVP mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Ihn kommentieren – oder gar den neuen ÖVP-Chef Sebastian Kurz kritisieren, der den Schwenk verordnet haben könnte – möchte von den Landeshauptleuten auf KURIER-Anfrage aber niemand. Dass der Konflikt aber auf beidseitigem Taktieren im eingesetzten Wahlkampf beruht – da sind sich alle einig.

Aus Vorarlberg, wo Modellregionen für die Gemeinsame Schule geplant waren, heißt es in Bezug auf das bevorstehende Aus des Bildungspakets nur: „Es gibt keinen Grund zur Eile, die Vorarbeiten werden noch mehrere Jahre dauern.“

Unverständnis für das Vorgehen der Regierung kommt auch von den Grünen. Klubobmann Albert Steinhauser zeigte sich im Plenum „sehr überrascht“ darüber, dass sich die ÖVP nun von diesem „Ergebnis entfernt“ und neue Junktimierungen verlangt. Dies sei „ein Vertrauensbruch“.

Sollten die Verhandlungen tatsächlich fortgesetzt werden, gibt es eine neue Deadline: Die ÖVP peilt die nächsten Plenarsitzungen am 28. und 29. Juni an. Das Getauche könnte also noch drei Wochen andauern.

Der KURIER hat mit Lehrern verschiedener Schulen über die geplatzte Bildungsreform gesprochen, manche wollen anonym bleiben.

AHS-Lehrerin: "Diese Reform wäre ein Anfang"

Heidi Schrodt, langjährige Direktorin der AHS in der Wiener Rahlgasse, engagiert sich nicht erst seit ihrer Pensionierung für die Zukunft der Schule. „Die Probleme beginnen eigentlich schon bei den Kleinsten. Bildung wird leider nicht von klein auf gesehen bis hinauf zum tertiären Sektor, den Universitäten.“

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Im Kindergartenbereich seien die Gruppen noch immer zu groß. „Und die Ausbildung der Kindergartenpädagogen hinkt dem internationalen Standard hinterher“, erklärt Schrodt. Da war die Reform für das verpflichtende letzte Kindergartenjahr ein guter Ansatz, findet die Schulexpertin. „Aber das reicht nicht, ein zweites Vorschuljahr würde sehr helfen.“

Klar sei, dass in den Volksschulen die Probleme zunehmen würden, „meist bedingt durch die Migration. Das Problem liege aber nicht bei den Kindern, sondern „das System hat lange nicht reagiert. Jetzt fehlen personelle Ressourcen, aber auch die Ausbildung sollte verbessert werden.“

So würden sich jene Probleme, die im Kindergarten bereits sichtbar und in den Volksschulen evident seien, immer größer werden, wenn die Kinder dann in die Unterstufe wechseln. „Auch das Ende der Schulkarriere mit der zehnten Schulstufe stellt ein Problem dar, weil da so viele Schüler übrig bleiben.“ Hier fehle es auch am geeigneten Deutsch-Unterricht und an den dafür nötigen Fachkräften.

Schrodt sieht die geplante Schulreform durchaus positiv, „diese Reform wäre ein Anfang, ein wichtiger Schritt.“ Denn als Lehrerin wie auch als Direktorin habe sie mit allen anderen Lehrern sehr unter den bürokratischen Hürden gelitten. Das könnte nun durch die autonome Schule deutlich besser werden. „Einfach, um mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu haben.“ Sie plädiert, diese Reform endlich abzuschließen. Und die nächsten großen Schulreformen sofort anzugehen.

AHS-Professorin: „Ein Drittel kann nicht Deutsch“

„Wir haben ein massives Sprachproblem, und das beginnt schon in der Volksschule. Etwa ein Drittel der Schüler hat so große Lücken bei Wortschatz, Hören und Schreiben, dass es in der Folge zu Problemen in fast allen Fächern führt.“

Die Lehrerin, die seit einem halben Jahrzehnt in einem Gymnasium in Wien-Simmering unterrichtet, möchte im KURIER-Gespräch anonym bleiben.
Ihr Befund ist aber gleichermaßen klar wie dramatisch: Bei einer zunehmenden Zahl an jungen Menschen in ihrer Schule fehlt es an grundsätzlichen sprachlichen Fertigkeiten: „Es gibt Kinder, die wissen einfach nicht, wovon ich spreche, wenn ich von einer ,Schnecke‘ erzähle.“

Ursache für die kommunikativen Defizite sind – auch – familiäre Defizite: „Bei jedem Elternabend in der 1. Klasse müsste ich sagen: ,Bitte schauen Sie nicht den ganzen Tag fern. Bitte machen Sie Ihrem Kind ein Frühstück und geben Sie ihm eine Jause mit, damit es nicht schon um 9 Uhr vormittags Pommes isst. Bitte lesen Sie Ihrem Kind vor. Bitte schränken Sie den Handykonsum ein und achten Sie darauf, dass Ihr Kind nicht stundenlang YouTube-Videos anschaut.“

Den im Zuge der Bildungsreform geplanten Sozial-Index hält die Pädagogin für einen großen Wurf – allerdings müssten auch andere Reformschritte gesetzt werden. Welche zum Beispiel? „Ein großer Fortschritt wäre eine ganztätige Schule bis 16 Uhr. Denn gerade bei Schülern mit türkischem Migrationshintergrund besteht das Problem darin, dass sie – bis auf den Kindergarten oder eben später die Volksschule – zu Hause und mit den Freunden ausschließlich eine türkisch-deutsche Misch- bzw. Kunstsprache sprechen.“

BHS-Lehrerinnen: "Treten im Unterricht am Stand"

Scheitert die Schulreform, wie sie jetzt vorliegt, wäre es kein großer Verlust, finden zwei Lehrerinnen einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) in Wien, die anonym bleiben möchten. Zwar befürworten sie die Idee der Schulautonomie, „aber das ist bestenfalls ein Reförmchen“.

Das Hauptproblem sei die fehlende Sprachkompetenz – das setze sich nach der Neuen Mittelschule nahtlos fort. „Wir treten im Unterricht am Stand. Viele Schüler können nicht einmal sinnerfassend lesen“, sagt die eine Lehrerin. Und die andere schlägt vor: „Wir bräuchten eine Übergangsstufe, wo sie fit gemacht werden für den Regelunterricht.“ Es gebe zu Schulbeginn zwar so genannte Diagnosetests, bei denen die Grundkompetenzen abgeklopft werden. Das
oft ernüchternde Ergebnis „landet aber im Mistkübel“.

Lehrer würden aus eigener Kraft versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, betonen sie. Dass das Niveau in den Klassen insgesamt sinkt, sei aber kaum aufzuhalten. Am Ende des Schuljahres äußert sich das durch die Drop-out-Quote: Von drei Klassen mit 25 bis 30 Schülern fällt oft eine ganze weg. Ein Drittel schafft es also nicht einmal in die zweite Klasse.

Was müsste sich ändern? „Man müsste zuerst Reform der Lehrerausbildung angehen. Junglehrer haben oft keine Ahnung von alternativen Lehrmethoden.“ Durch Schulautonomie würde der Erfolg stärker von den Handelnden abhängen – ein Wettbewerb, den beide befürworten.

Jahrelang wurde verhandelt, nun steht das Konzept für die Bildungsreform vor einem möglichen Beschluss. Aber was soll die Reform am Schulalltag verändern?
Schulen sollen in Zukunft selbst entscheiden, wie sie Kinder und Jugendliche am besten unterrichten.

Das Paket beinhaltet pädagogische, organisatorische und personelle Freiräume für die einzelnen Standorte. Die Gestaltung von Lerngruppen nach pädagogischen Zielen wird erleichtert und schulautonome Schwerpunktsetzungen werden ermöglicht. Eine Abweichung vom Regelstundenplan (50-Minuten-Einheiten) sowie Anpassung der Öffnungszeiten nach Bedarf werden ebenfalls möglich sein.

Damit rückt vor allem der Direktor oder die Direktorin in den Fokus: An ihnen wird es liegen, den neuen Schulalltag bestmöglich zu gestalten. Bildungsministerin Sonja Hammerschmid hat immer von einem „Ermöglichungspaket“ gesprochen. Kooperationen mit der Wirtschaft, mit regionalen Betrieben oder mit Sport-, Kunst- und Kultur-Vereinen aller Art sollen möglich werden.

In Zukunft soll den Leitern auch die Entscheidung überlassen werden, ob weiterhin in 50-minütigen Lehreinheiten Stoff aus dem Lehrplan vermittelt werden soll oder welche Zeitspanne sie für angemessen erachten. Die Start- und Endzeiten der Schule können künftig ebenfalls autonom entschieden werden. So gibt es keinen Zwang, die Schule um acht Uhr beginnen zu lassen. In Regionen mit vielen Pendlern kann alles vorverlegt werden, in urbanen Gebieten auch später starten.

Die Einflussmöglichkeit der Schule bei der Lehrerauswahl wird verbessert, indem die Schulleitung jene Lehrpersonen auswählen kann, deren Stärken besser zum Entwicklungsbild der Schule passen.

Darüber hinaus sollen sich bis zu acht Schulen zu Clustern mit einem Schulleiter zusammenschließen können, um die gemeinsamen Ressourcen – Sportplätze, Labors und Fachlehrer – besser bündeln zu können.