Politik/Inland

"Die Bürger fühlen sich vor Gericht ausgeliefert"

Seit elf Jahren ist die Ex-ÖVP-Abgeordnete Gertrude Brinek Volksanwältin. Sie kennt die Defizite des österreichischen Justizsystems wie kaum eine andere und listet sie im KURIER-Interview auf.

KURIER: Frau Brinek, wie geht es den Menschen, wenn sie mit der österreichischen Justiz in Berührung kommen oder ihr Recht vor Gericht suchen?

Gertrude Brinek: Die Perspektive, wie geht es dem Betroffenen, kommt im österreichischen Justizsystem zu kurz. Viele Bürger fühlen sich von den Richtern oder Staatsanwälten zum Objekt degradiert. Sie fühlen sich vor Gericht ausgeliefert und ohnmächtig gegenüber bestimmten Handlungen, Prozessabläufen und der Endgültigkeit des Urteils.

Warum?

Die Justiz wird als eigene, vom Leben abgetrennte Welt erlebt, in der die Menschen „drinnen“ kein Interesse haben, die von „draußen“ hinein zu holen. Aus fast zwölf Jahren als Volksanwältin und mehr als 3000 Einzelgesprächen mit Bürgern kann ich folgende Mankos subsumieren: Der Bürger fühlt sich gegenüber der Justiz oder dem Gericht selten auf Augenhöhe. Besonders damit verbunden ist das Problem der Sprache. Vertreter der Justiz sind in ein sprachlich enges Korsett gezwängt.

Die Juristen-Sprache, wo via Paragrafen-Kürzel kommuniziert wird, verstehen viele Bürger nicht. Auch die Mediziner haben gelernt, ihre Fachsprache zu übersetzen und aus Betroffenen im Heilungsprozess Beteiligte zu machen. Von den „Göttern in Weiß“ sprechen nur mehr wenige im verachtenden Ton. Schaffen wir auch andere „falsche Götter“ ab. Denn auch wenn Richter sehr laut sind oder den Angeklagten bloß stellen, schwindet das Vertrauen in die Justiz insgesamt. Ein bisschen Rechtsdienstleister sollten die Richter schon auch sein.

Hören Sie viele Beschwerden wegen zu langer Verfahren?

Bei diesem Faktum wird offenbar vergessen, wie schwer so ein Prozess im Leben wiegt oder an die Existenz geht. Das muss nicht nur in komplexen Straffällen sein wie bei den Tierschützern.

Auch bei Obsorgefällen gehen die Menschen an ihre Grenzen, brauchen ihre Ersparnisse auf oder nehmen sich extra einen Kredit auf.

Umso unverständlicher ist es für die Betroffenen, wenn die Richterentscheidung lange auf sich warten lässt, oder die Gutachter bei einer Kindesentnahme oft Jahre für ihre Expertise benötigen.

Und dann kommen sie zum Ergebnis: Nach zwei oder drei Jahren ist die Entfremdung zum Vater oder zur Mutter schon zu groß.

Sollte der Kostenersatz bei Freispruch angehoben werden?

Die Gerichtsgebühren sind enorm, sodass viele den Gang auch zum Zivilgericht nicht mehr wagen. Die Causen sind insgesamt rückläufig. Durch die Gerichtskosten wird das gesamte heimische Gerichtssystem finanziert. Der Staat muss nur den Strafvollzug finanzieren. Bei Angeklagten im Strafprozess kommen noch die Anwaltskosten hinzu. Es kann nicht sein, dass man bei einem Freispruch weniger als zehn Prozent zurück bekommt.