Politik/Inland

Als Kind am Heldenplatz: "Ich spürte die Bedrohung"

Das Mädchen lief so schnell es seine Füße trugen. Von der Berggasse am Wiener Alsergrund hinüber in den Ersten, hin zum Heldenplatz. Dort, so hatte man der Achtjährigen erzählt, sei an diesem Dienstag Großes zu beobachten. Also rannte die kleine Lucia.

Doch je näher sie der Ringstraße kam, desto stärker wurde das üble Gefühl in ihrem Magen, ein Unbehagen. "Das fanatische Grölen und Schreien am Platz hat mir unglaubliche Angst gemacht", erzählt Heilman.

Alle Inhalte anzeigen
Die 87-Jährige sitzt in einem Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt. Ihre Augen sind wach, die Stimme klar. "Ich stand damals da und wusste sofort: ,Du gehörst nicht dazu’. Als Kind spürt man die Bedrohung."

Judenkinder raus

Lucia Heilman ist Jüdin und was sie am 12. März 1938 bei Adolf Hitlers Rede auf dem Heldenplatz schmerzhaft ahnte, sollte bald mit aller Scheußlichkeit in ihren Alltag drängen. "Eines Tages stand der Schuldirektor vor uns und sagte: ,Alle Judenkinder raus!’. Man muss sich vorstellen, was das für ein Kind bedeutet. Ich bin nie schlecht aufgefallen, war immer fleißig und strebsam. Und dann schmeißt dich der Direktor vor allen aus der Klasse. Es war eine Demütigung."

Später, 1939, stand plötzlich ein Ehepaar vor der Wohnungstür der Heilmans. "Die Nazis hatten unsere Wohnung beschlagnahmt, das Ehepaar hatte sie sich ausgesucht. Also mussten wir binnen 14 Tagen ausziehen. Mein Zimmer, die Bücher, Puppen – alles sofort verloren."

In einer Sammelwohnung harrten Mutter und Tochter (der Vater arbeitete vor Kriegsausbruch im Iran und wurde später nach Australien deportiert) der Deportation – und damit dem Tod.

"Die Lastwägen kamen am helllichten Tag, alle konnten sie sehen."

Heilmanns Großvater, ihr liebster Spielgefährte und Begleiter, wird in einem dicken Wintermantel und mit einem kleinen Köfferchen in der Hand von der SS mitgenommen und stirbt 1939 im KZ Buchenwald.

Die Freundin im KZ ermordet

Heilmans Freundin Erna Dankner wird im Gedränge bei der Deportation von der Ladefläche des Lkw geworfen, wird vor den Augen aller überfahren, überlebt aber soweit, dass sie nach Theresienstadt und später weiter nach Auschwitz gebracht wird. Sie wird dort mit 16 Jahren ermordet.

Die junge Lucia bekommt den ganzen Terror mit. Auch das Ringen ihrer Mutter, die zwar eine Ausreisegenehmigung nach Amerika organisiert, aber nicht genug Geld sammeln kann, um nach dem Anschluss noch ein Schiffsticket in die Freiheit zu kaufen.

Mutiger Freund als Retter

Doch an dieser Stelle wendet sich das Blatt, und es beginnt eine kleine Heldengeschichte: Ein Kunsthandwerker namens Reinhold Duschka will nicht mit ansehen, wie Frau und Tochter seines besten Freundes auf die Deportation und den Tod warten müssen. "Er hat uns versteckt. In seiner Werkstätte in der Mollardgasse."

Duschka baut einen Verschlag, in dem sich die Heilmans verbergen, wenn Kunden oder der Briefträger kommen. Als ein Bombentreffer die Werkstatt zerstört, bringt der Helfer die beiden in ein anderes Versteck.

Lebensmittel, Gewand und Schulbücher besorgt er auf dem Schwarzmarkt und riskiert wieder und immer wieder die Todesstrafe.

Doch sein Mut wird belohnt: Lucia und ihre Mutter bleiben bis Kriegsende unentdeckt – und Kunstschmied Duschka wird später als "Gerechter unter den Völkern" geehrt.

Morgen, Montag, wird Lucia Heilman wieder auf dem Heldenplatz sein. Und diesmal wird sie dazugehören, mehr noch: Sie wird auf der Bühne ihre Geschichte erzählen.

Anlässlich der sich zum 72. Mal jährenden Befreiung Österreichs von der NS-Herrschaft lädt das Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) zum "Fest der Freude".

"Uns ist es gelungen, das ,Fest der Freude’ als Tag des Gedenkens und der Freude zu etablieren", sagt MKÖ-Chef Willi Mernyi.

Wider die Ewiggestrigen

Tatsächlich ist es nicht lange her, dass der 8. Mai von Ewiggestrigen geprägt war, die mit einem eindeutig zweideutigen "Heldengedenken" bisweilen ganz offen die Niederlage des Nazi-Regimes betrauerten.

Das hat sich geändert. Die Wiener Symphoniker laden morgen ab 19.30 Uhr zu einem kostenlosen Open-Air-Konzert. Die Spitzen von Regierung und Stadt werden da sein – und eben Zeitzeugin Heilman.

Was will sie all den Menschen sagen, die ihr bei der Gala zuhören? "Ich will ihnen sagen: Hört bitte genau hin. All die Toten von damals, die Gefallenen und die Millionen Ermordeten, sie schreien. Immer noch."

Einer, der am 8. Mai 1945 auch ein Kind war, aber dennoch sehr viel über den Umgang Österreichs mit seiner belastenden Historie weiß, ist Ex-Bundespräsident Heinz Fischer. Er wird dazu von ORF III anlässlich des Gedenktages ausführlich interviewt. Das frühere Staatsoberhaupt ist überhaupt nach wie vor ein äußerst gefragter Mann. Wer dachte, Fischer genießt nun, mit 78 Jahren, seinen wohlverdienten Ruhestand, widmet sich nur noch der Familie und geht wandern, der irrt also gewaltig.

Fast täglich im Büro

Der Bundespräsident a.D. hat einen vollen Terminkalender. „Er geht fast täglich ins Büro“, wird in seinem Umfeld erzählt. Fischer wurde von der Regierung beauftragt, die Feiern zum 100-Jahr-Jubiläum der Republik vorzubereiten. Daher hat er am Ballhausplatz nach wie vor einen Arbeitsplatz – allerdings nicht in der Hofburg, sondern vis-à-vis im Bundeskanzleramt. Das ist Fischers derzeitiger Hauptjob. Nebenbeschäftigungen nimmt er aber auch immer wieder an. So reiste er vor knapp zwei Wochen im Auftrag von Außenminister Sebastian Kurz, dem aktuellen OSZE-Vorsitzenden, nach Baku und Eriwan, um im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien zu vermitteln.

Politiker und Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland pflegen auch noch den Kontakt. Als Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel in Wien weilte, wollte er Fischer treffen. Dasselbe galt für US-Investor George Soros.

Vorträge in der Türkei und den USA

Häufig wird der ehemalige Spitzenpolitiker zu Diskussionen eingeladen oder für Vorträge angefragt. „Im Juni spricht er an drei amerikanischen Unis. Er kann gar aber nicht alle Einladungen annehmen“, schildern Vertraute. Angenommen hat er jene des türkischen Ex-Präsidenten Abdullah Gül Anfang April zum 20. Eurasian Economic Summit in Istanbul. Fischer referierte dort über Frieden, Sicherheit und Demokratie. Couragiert beurteilte er dabei die Entwicklungen im Land – wie etwa die mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe und die „Säuberungsmaßnahmen“ nach dem Putschversuch. Er strich aber auch hervor, dass detto die EU gefordert sei. Fischer als Verbinder, wie eh und je. Darin versucht er sich auch in seiner Funktion als Präsident der österreichisch-chinesischen Gesellschaft.

Spielen mit den Enkerln

Bei all diesen Aufgaben bleibt naturgemäß wenig Freizeit. Die Wochenenden verbringt Fischer meist mit Ehefrau Margit im Haus auf der Hohen Wand. Dort wird gegartelt und gewandert – und mit den drei Enkerln gespielt, ehe es den Großvater im Unruhestand wieder ins Büro oder zu einem seiner vielen Termine zieht.

Maria Kern