Politik/Ausland

Zehntausende in Chemnitz: "Rechten nicht die Stadt überlassen"

Es reicht manchmal ein Funken, um etwas zu entfachen. Oder ein falsches Wort und die Stimmung kippt. Es hätte gestern durchaus passieren können. Während auf dem Parkplatz vor der Johanniskirche die Toten Hosen rocken, wird an der Brückenstraße heftig debattiert. Hier, wo Blumen und Kerzen für den getöteten Daniel H. liegen, stehen sich zwei Fronten gegenüber: „Wir sind keine Nazis“, schimpft eine Frau in Jeansjacke, ihr Kopf ist rot angelaufen. Ihr Gegenüber, eine junge Frau in Kapuzenpulli, fragt sie mit bebender Stimme: „Warum müssen immer gleich alle Flüchtlinge raus?“, ihre Augen sind glasig.

Stunden zuvor: Ein grauer Schleier hängt über Chemnitz. Hunderte Menschen gehen von Bahnhof und Busstation in die Stadt. Anna-Maria und Luisa, Studentinnen aus München, sind mit einem mulmigen Gefühl gekommen: „Wie sind die Menschen hier, mit wem soll man reden?“ Anna-Luisa trägt ein Toten Hosen Shirt. Die Band aus Düsseldorf gibt an diesem Abend unter anderem mit ihren Kollegen von Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet und Casper ein Gratis-Konzert. Das Bündnis #Wir sind mehr hat geladen, um ein Zeichen zu setzen: „Wir werden den Rechten die Stadt nicht überlassen,“ ruft eine Aktivistin um 17 Uhr zirka 65.000 Menschen zu, ehe sie zur Schweigeminute ersucht. Für einen kurzen Moment ist es still in der Stadt, in der es zuletzt so laut war.

Eine Woche ist vergangen seit dem Tod eines 35-Jährigen, den Festnahmen der mutmaßlichen Täter, eines Syrers und eines Irakers, und dem Aufmarsch von Hooligans, NPD, Pegida und AfD, die gegen Fremde auf die Straße gingen; sowie einem Bündnis aus Vereinen und Kulturschaffenden, das gegen deren Hass protestierte. Mehr als 11.000 Menschen waren am Samstag auf der Straße, es gab 18 Verletzte, 37 Strafanzeigen. Die Stadt ordnete 4000 dem Bündnis „Herz statt Hetze“ zu, 4500 den rechten Gruppierungen.

Macht der Bilder

Es geht dieser Tage auch um die Deutungshoheit der Bilder. Die Rechten verkaufen ihren Aufmarsch als Anfang einer Wende. Während die anderen befürchten, dass die Geschehnisse das Bild der Stadt noch lange prägen werden – als Synonym für rechte Gewalt.

Peter aus Chemnitz will das nicht so einfach hinnehmen - und zeigen, dass seine Stadt auch ein anderes Gesicht hat. Er ist mit seiner Familie unterwegs, seine Frau arbeitet in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, beide haben viele syrische Freunde. Auch ihretwegen ist er heute hier und will friedlich ein Zeichen setzen - das war am vergangenen Wochenende nicht möglich, sagt er. „Die Stimmung war äußerst aggressiv, auf beiden Seiten." Was er seinen Kindern mitgeben will: Immer offen sein, auch jenen gegenüber, die anderer Meinung sind.

Keine einfache Sache, wie sich an diesem Abend um die Gedenkstätte an der Brückenstraße zeigt. Zur Frau mit Jeansjacke haben sich Männer mit Sonnenbrillen gesellt, ein paar Punks rücken näher zu ihrer Gesprächspartnerin und deren Freunde. Die Polizei baut eine Mauer um den Kreis. Stimmen werden lauter. Es geht um Schulen, Geld und Vielfalt.

Mit Migranten hatte man in der Stadt bis zur Wende wenig Erfahrung. Heute beträgt ihr Anteil knapp acht Prozent. Davon sind zwei Prozent Flüchtlinge. Viele von ihnen fühlen sich seit den Ausschreitungen unwohl, berichtet Thomas Hoffmann vom sächsischen Flüchtlingsrat. „Die Lage ist sehr angespannt“. Ihre Klienten erzählen von herabwürdigenden Blicken und Beschimpfungen. Dass jetzt so viele Menschen hier sind, um ein Zeichen zu setzen, findet er gut, hofft aber auch auf einen langfristigen Effekt und auf mehr politisches Engagement.

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Fehlendes Engagement

Genau das fehlt vielen jungen Menschen, bekrittelt Hilde aus Magdeburg. Die Mittfünfzigerin ist spontan aus Brandenburg angereist, wo es mitunter ähnlich aggressive Stimmung gegen Flüchtlinge gibt. Sie macht sich Sorgen, dass sich die Rechten noch weiter ausbreiten – „das kann in jeder ostdeutschen Stadt passieren, ein Anlassfall genügt.“ Die Kanzlerin müsse endlich Stellung beziehen. Dass sich deren CDU nun über den Aufruf zur Konzert-Teilnahme von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier echauffiert, empört sie. Aus dem Bundeskabinett kam gestern jedenfalls niemand nach Chemnitz, dafür vereinzelt Vertreter von SPD, Linken und Grünen.

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Peter aus Chemnitz ist mit Frau und Kindern gekommen, um friedlich ein Zeichen zu setzen – bei den vergangenen Veranstaltungen war dies nicht möglich,  erklärt er. „Die Stimmung war zu aggressiv, auf beiden Seiten.“ Was er seinen Kindern mitgeben will: Offen zu sein, auch jenen gegenüber, die andere Meinung sind.

Hilke, Mitte 50, ist spontan aus Magdeburg gekommen. „Wir sind zwar nicht mehr 27, wollen aber nicht auf der Couch rumsitzen“, erklärt sie und ärgert sich gleich mal über die CDU, die  Bundespräsident Steinmeier kritisierte. Er hatte zur Teilnahme an dem Konzert aufgerufen. Was für sie noch wichtiger wäre: „Die Kanzlerin muss endlich Stellung beziehen“. Hilke macht sich Sorgen, dass sich die Rechten ausbreiten könnten – „das kann in jeder ostdeutschen Stadt passieren, ein Anlassfall genügt.“ Aus dem Bundeskabinett kam jedenfalls gestern niemand nach Chemnitz, dafür vereinzelt Vertreter von SPD, Anhänger der Linken und der Grünen.

„Das vertritt uns nicht“

Nicht allen gefällt das. Ein älteres Ehepaar beobachtet, wie die vielen Menschen zur Bühne gehen. „Was die machen, das vertritt uns nicht“, sagt der Pensionist. Mehr Sympathie habe er für jene, die mit der AfD demonstriert haben – „nur jene, die die Hand zum Hitlergruß hoben, gehören nicht zu uns“, stellt er klar. Ebenso wenig wie Ausländer bzw. nur jene, die sich anpassen. Die Frage, ob er mit ihnen selbst schon Probleme gehabt hätte, verneint er verblüfft. Aber man höre und lese so viel. Genauso wie das Bild von Chemnitz, das Medien transportierten: „Wir sind keine Menschenfresser.“ Und dann beginnt es aus ihm herauszusprudeln. Ob der Reporterin die marode Lokalbahn aufgefallen sei, die leer stehenden Geschäfte und Lokale? Und am Schluss meint er: „Ja, sicher geht es hier nicht nur um Flüchtlinge. Aber, auf uns wird vergessen“, sagt er und geht.

Kurz vor 22 Uhr ist auch das Konzert zu Ende. Es ist ruhig geblieben, die Diskussion um die Gedenkstätte hat sich aufgelöst. Eine Aktivistin, die sich für Flüchtlinge einsetzt, kommt sichtlich erschöpft zu ihren Freunden, ihre Bilanz: „Es ist mühsam, aber was sollen wir denn machen, wenn nicht miteinander reden.“