Zähes Ringen um Europas Regierung
Sie tun so, als hätten sie viel Zeit und überflüssiges Geld: Zum dritten Mal nach der EU-Wahl am 25. Mai kamen Mittwochabend die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammen. Sie wollten über das Spitzenpersonal der EU-Institutionen entscheiden, doch weit kamen sie nicht.
Nur Jean-Claude Juncker steht nach großer Zustimmung im EU-Parlament als Präsident der Europäischen Kommission fest, über die anderen Top-Posten gab es keine Einigung. Was sich beim Gipfel abgespielt hat, war ein handfester Krach unter den Staatenlenkern. Mehrere Delegationen beschwerten sich über Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Sie will über alle Top-Jobs bestimmen, selbst Kommissionspräsident Juncker will sie vorschreiben, an wen er welche Dossiers verteilt, eine glatte Desavouierung Junckers“, gab ein hochrangiger Diplomat Einblick, was sich hinter den Kulissen abspielte.
Der Gipfel startete mit großer Verspätung, und Merkel ließ schon vor Beginn wissen, dass es „sehr gut sein kann, dass es nur eine erste Diskussion gibt“. Sie sei dafür, das Thema Personal „umfassend zu lösen“. Ein großes Personalpaket zu einem späteren Zeitpunkt. Dass dies Mittwochabend gelinge, glaube sie nicht. Ersatztermin für ein viertes Treffen kursierten, es soll Mitte oder Ende August stattfinden.
Besonders heftig war das Gerangel um die Nachfolge von EU-Außenbeauftragter Catherine Ashton. Die sozialdemokratischen Regierungschefs beharrten auf der italienischen Außenministerin Federica Mogherini. Die Konservativen wetterten gegen die 41-Jährige, sie sei zu unerfahren, zu Russland-freundlich, einfach Pro-Kreml. Das sei „Polemik“ und „Hetze“, erwiderten rote Regierungschefs. Die Konservativen favorisierten Kristalina Georgieva, die bulgarische EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe. „Wenn Georgieva nicht zum Zug kommt, platzt der Gipfel“, drohte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber.
Russland-Sanktionen
Als der Gipfel begann, wurden die Job-Fragen kurz ad acta gelegt und im Schnellverfahren die Konfliktherde der Welt behandelt: Naher Osten, Russland, Ukraine. Die Sanktionenliste wurde um einige Namen verlängert, es trifft russischsprachige Ostukrainer. Firmen und Oligarchen sollen bestraft werden, die finanzielle Unterstützung für die Krim-Annexion bereitgestellt haben, so EU-Diplomaten. Die Europäische Investitionsbank wurde aufgefordert, neue Projekte in Russland zu suspendieren. Auch die Finanzierung neuer Vorhaben durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) soll auf Eis gelegt werden. Nord- und Osteuropäer verlangten härtere Sanktionen gegenüber Russland.
"Merkel ärgern"
Erst zum Abendessen wurde Kommissionspräsident Juncker zu Tisch gebeten. Einige seiner ehemaligen Amtskollegen begrüßten seinen machtvollen Start am Dienstag im Parlament und würdigten seine anspruchsvolle Agenda. Anderen war sein selbstbewusstes Auftreten suspekt. Es war schon ein seltsamer Moment für den luxemburgischen Christdemokraten, wieder in jener Runde zu sein, der er als Ministerpräsident bis Dezember 2013 fast 19 Jahre angehört hatte. Juncker hat Gefallen an seiner neuen Rolle, als Kommissionspräsident kann er jetzt den 28 Regierungen eine europäische Agenda vorsetzen, EU-Gesetze vorschlagen "und er kann Merkel ärgern", ätzte ein Regierungschef. "Juncker will ein politischer Kommissionschef sein." Bundeskanzler Werner Faymann gefällt das. Er sieht in Juncker "einen Verbündeten für ein starkes, soziales Europa".
Beim Abendessen wurde aber nicht nur über die EU-Chefdiplomatin gefeilscht, sondern auch über Kommissarsposten und den künftigen Ratspräsidenten. Merkel lehnt Frankreichs Ex-Finanzminister Pierre Moscovici als Wirtschafts- und Währungskommissar ab. Sie will den niederländischen Euro-Gruppen-Chef Jeroen Djisselbloem auf diesen Posten platzieren.
Am Rande des Treffens gab es Gratulationen für Angela Merkel, die am Donnerstag ihren 60. Geburtstag feiert. Von Faymann gab es ein besonderes Geschenk, das die Physikerin Merkel gefreut haben dürfte: "Einsteins Spuk", ein Buch von Quantenphysiker Anton Zeilinger – mit persönlicher Widmung.
Als Kommissionspräsident will Jean-Claude Juncker dafür sorgen, "dass die Menschen Europa wieder lieben", sagte er bei seiner Wahl durch das EU-Parlament am Dienstag in Straßburg. Damit das gelingt, will Juncker eine "breite Reform-Agenda" durchziehen.
Oberste Priorität hat dabei die Ankurbelung der Wirtschaft und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit: In Europa gebe zurzeit "einen 29. Staat", sagt Juncker: "Das ist der Staat, in dem die Arbeitslosen wohnen (25 Millionen derzeit)." Schon in den ersten drei Monaten seiner fünfjährigen Amtszeit – planmäßig also von November bis Ende Jänner – will Juncker mit seinen 28 Kommissaren ein Investitions- und Jobpaket schnüren: 300 Milliarden Euro sollen in den kommenden Jahren zusätzlich investiert werden.
Die Europäischen Fördertöpfe und leicht(er) zugängliche Kredite von der Europäischen Investitionsbank sollen dafür sorgen, dass Unternehmen mehr Geld in die Hand nehmen.
Von der Vollendung des digitalen Binnenmarktes verspricht sich Juncker viel: Die Vereinheitlichung von Datenschutz, Verbraucherrechten und grenzüberschreitender Handy- und Internet-Nutzung (Stichwort: Ende der Roaming-Gebühren) soll in seiner Amtszeit Hunderttausende Jobs besonders für Junge schaffen und ein Wachstum von 250 Milliarden Euro bringen.
Positive Impulse erwartet sich Juncker vom Abschluss des Freihandelsabkommens mit den USA – auch wenn er es "nicht um jeden Preis" durchboxen wolle.
Gemeinsame Aufgabe
Einen Kurswechsel plant Juncker in der Flüchtlingspolitik, wo es die Staaten bisher nicht geschafft haben, sich auf eine Reform zu einigen. Mittelmeerstaaten wie Italien, die die aktuellen Flüchtlingsströme aus Nordafrika besonders stark zu spüren bekommen, beklagen, sie würden mit einer zu großen Aufgabe alleinegelassen. Ihnen spricht Juncker aus der Seele, wenn er sagt, dass es sich bei der Flüchtlingspolitik "eindeutig um eine europäische Aufgabe handelt. Das ist nicht Sache einzelner Staaten wie Malta, Griechenland oder Italien." Geplant ist auch, dass es eine gemeinsame Strategie für legale Einwanderung nach Europa gibt – etwa nach dem Vorbild Kanadas oder Australiens.
Stärkerer Auftritt
In zwei Bereichen will Juncker, den viele als stärkeren, aktiveren Kommissionschef einschätzen als seinen Vorgänger Jose Manuel Barroso, für einen ge- und entschlosseneren Auftritt der EU sorgen: Die Währungsunion soll international mit einer Stimme sprechen – das soll ein hauptamtlicher Eurogruppen-Chef erledigen. Bei der Außenpolitik will er dafür sorgen, dass der Nachfolger der Außenbeauftragten Catherine Ashton mehr Macht bekommt – und "nicht mehr von den Außenministern ausgebremst wird".