Politik/Ausland

"Wir wollen unsere Stadt zurück"

Es wäre der perfekte Tag zum Heiraten gewesen. Die Hochzeitsgäste stoßen in der Altstadt der südfranzösischen Küstenmetropole mit Sekt auf das Glück des Brautpaares an, als plötzlich wütendes Geschrei die Feiernden aufschreckt. "Wie könnt Ihr nur?", brüllt eine vorbeikommende Frau in die Menge, "hier sind Menschen gestorben, so viele." Die Stimme der Passantin überschlägt sich, die Empörung raubt ihr den Atem.

Doch da brüllt ein Hochzeitsgast schon genauso wütend zurück: "Sollen wir uns von den Terroristen alles nehmen lassen? Ist es unsere Schuld, was passiert ist?"

Die Nerven liegen blank in Nizza, am zweiten Tag nach dem Attentat, dem schwersten, das die bisher so idyllische Stadt je erschüttert hat. Noch immer ringen mehr als 50 Schwerverletzte mit dem Tod, mehr als 80 sind tot. Niedergewalzt in einer terroristischen Amokfahrt, die nur 45 Sekunden dauerte, aber für lange Zeit tiefe Spuren in die Stadt graben wird. Christiane fragt sich, "wie das weitergehen wird mit uns? Unsere schöne Stadt. Bis jetzt waren wir so sicher, aber jetzt?"

Je länger die Sekretärin aus Nizza darüber nachdenkt, umso wütender wird sie. "Das ist alles die Schuld von Präsident Hollande", ereifert sich die Mittfünfzigerin. "Er ist der Staat, er hat die Macht, er hätte all das verhindern müssen. Aber wo bitte waren am 14. Juli die Polizei und das Militär?"

"Hört das nie auf?"

Zwei ältere Männer, die zum Café Balthazar an der Promenade des Anglais gekommen sind, um hier Blumen abzulegen, pflichten Christiane bei. "Genau, all das hätte gar nicht passieren dürfen. Nach all dem Terror in Paris? Hört das nie auf?"

Ein Blumenberg türmt sich auf an jener Stelle der Promenade, wo besonders viele Menschen ums Leben kamen. Darunter die gesamte Familie eines Mannes aus dem naheliegenden Dorf Gattiers. Seine Eltern wurden zerquetscht, seine Schwiegereltern, seine Frau und sein 17-Jähriger Sohn. Der Bürgermeister des Ortes lässt mitteilen: Kommenden Montag werden alle im Dorf gemeinsam die sechs Todesopfer zu Grabe tragen.

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Auch mehr als 48 Stunden nach der Katastrophe sind noch immer nicht alle Opfer identifiziert, mehr als ein Dutzend Menschen, darunter vor allem Kinder, wird vermisst.

Der vierjährige Killian etwa, den sein Vater verzweifelt über Facebook sucht. Mit seiner Mutter hatte der Bub Donnerstag Nacht das traditionelle Feuerwerk des 14. Juli bewundern wollen. Die junge Frau ist tot, ihr Sohn seither verschwunden.

Ohrfeige für Hollande

Im Spital Pasteur 2, wo die Mehrheit der Verletzten behandelt wird, hat Jerome heute schon Blut gespendet. Jetzt ist der Pensionist zur Promenade gekommen. Wie gestern auch, und wohl auch die nächsten Tage immer wieder, wie er sagt. "Ich muss das alles erst begreifen. Was wollen die von uns, diese Terroristen? Die hassen doch unsere Gesellschaft, sollen sie doch alle wieder dorthin gehen, wo sie hergekommen sind." Seine Wut auf die Staatsführung kennt kein keine Grenzen mehr. Wenn Präsident Hollande, der Nizza am Freitag besucht hatte, "bei mir vorbeigefahren wäre, ich schwöre, ich hätte mich höchstpersönlich auf sein Auto geworfen, ihn rausgeholt und geohrfeigt."

Nur ein paar Meter entfernt liegen schon wieder die ersten Badenden auf Nizzas berühmtem Strand. Normalerweise wäre an einem strahlenden Sommertag wie diesem die Bucht entlang der Promenade des Anglais schwarz vor Menschen. Doch der erst heute wieder freigegebene Badebereich füllt sich nur allmählich, wie sich auch die Strandcafés und Restaurants entlang der "Prom", wie sie in Nizza genannt wird, nur langsam füllen. Eine dreitägige Staatstrauer ist im ganzen Land verhängt, in Nizza wurden alle Festivals und größeren Veranstaltungen abgesagt. Bei Kasia, an der Rezeption ihres Hotels, hört indessen das Telefon nicht mehr auf zu läuten. "Alles Stornos", sagt sie bedauernd. Aber andere Gäste sehen gerade jetzt eine Chance, im sonst immer ausgebuchten, überfüllten Nizza endlich zum Zug zu kommen.

Ihr Freund Garen wiederum wollte schon am zweiten Tag nach Nizzas Urkatastrophe nichts anderes als demonstrativ feiern. Spontan lud er zwei Dutzend seiner Freunde zu einem Grillfest ein: "Wir wollen lachen, wir wollen leben und wir wollen unsere Stadt zurück."

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