Weiblicher, gebildeter, bodenständiger: Das ist Englands neue Regierung
Von Anna-Maria Bauer
Er war noch keine 48 Stunden im Amt, da verkündete der neue britische Premier das Ende des umstrittenen Ruanda-Deals. Die neue Innenministerin bastelt unterdessen eifrig an einem Spionageplan, um die Menschenschmuggler am Ärmelkanal zu schnappen. Die Schatzkanzlerin hat die Wiedereinführung von Wohnbaurichtlinien angekündigt. Der Gesundheitsminister hat sich mit den Jungärzten zusammengesetzt, die seit 20 Monaten die längsten Streiks in der Geschichte der NHS abhalten. Und der neue Außenminister ist bereits nach Europa geflogen, um die Beziehungen mit der EU zu kitten.
Im Stundentakt trudelten diese Woche Nachrichten zu den Projekten, Plänen und Programmen der neuen Minister ein. Sie wollen dem Land wohl beweisen, dass sie es ernst meinen, mit ihrem Versprechen, das Land aus der Krise zu führen. Zumindest die Ausgangslage der neuen Labour-Regierung wäre dafür stimmig. Am besten entscheiden Regierungen im Sinne des gesamten Volkes, wenn sie dieses auch verkörpern. Und dieses Kabinett ist weiblicher, gebildeter, gleichzeitig bodenständiger und somit repräsentativer denn je.
Von den 25 Ministern sind elf Frauen. Erstmals wurde mit Rachel Reeves auch das Amt der Finanzministerin mit einer Frau besetzt. Gleichzeitig haben laut NGO Sutton Trust 90 Prozent der Minister eine öffentliche Gesamtschule besucht. Nur Keir Starmer war auf einem (teils privatem) Gymnasium, Transportministerin Louise Haigh auf einer privaten Mädchenschule. Zum Vergleich: Unter Rishi Sunak waren zwei Drittel der Minister Privatschulabgänger.
Doch wer sind die neuen Minister? Der KURIER hat die sechs wichtigsten Personen des neuen Labour-Kabinetts porträtiert.
Angela Rayner, stv. Premierminister: Die Durchbeißerin
Es war ein weiter Weg für die Britin, die mit 16 Jahren hochschwanger die Schule abbrach. Die in einer kleinen Gemeindewohnung in Nordengland aufwuchs, in der es keine Bücher gab, weil ihre Mutter weder lesen, noch schreiben konnte. Doch die heute 44-Jährige ließ sich nicht von ihrem Weg abbringen. Nach der Geburt ihres Sohnes besuchte sie die Abendschule, studierte Gebärdensprache und Sozialarbeit.
In ihrem Job als Sozialarbeiterin wurde sie bald als Gewerkschafterin angeheuert. „Ich lasse mich nicht herumkommandieren und bin schlagfertig.“ Letzteres eine Eigenschaft, die sie mitunter in die Bredouille bringt – etwa als sie die Torys als „Haufen Abschaum“ bezeichnete – doch für die sie ihre Fans schätzen.
2015 wurde sie erste weibliche Abgeordnete in ihrem Wahlkreis. Heute ist sie einer mächtigsten Frauen im Land.
Rachel Reeves, Finanzministerin: Die Bedachte
Ernst, entschlossen, bedacht – so wird Rachel Reeves gerne beschrieben. Ein Moderator nannte sie sogar „Schnarchnase“. Doch als Finanzministerin, die den desaströsen Schuldenstand des Landes (2,1 Billionen Euro) in Ordnung bringen soll, gibt es wohl kaum bessere Eigenschaften.
Ihr Weg zur Schatzkanzlerin schien fast programmiert. Als Kind, meinte ihre Schwester Ellie zur BBC, hätte Rachel ihre Taschengeld stets gespart. Mit 14 Jahren war sie englische Schachmeisterin. Mit 17, als ihre Schulbibliothek aus Geldmangel einem Klassenzimmer weichen musste, trat sie der Labourpartei bei. Und als sie (wie Rishi Sunak) nach der Uni einen lukrativen Job von Finanzriesen Goldman Sachs angeboten bekam, sagt sie (anders als Sunak) ab. Sie wurde stattdessen Ökonomin der Bank of England.
Yvette Cooper, Innenministerin: Die Pragmatische
Kaum ein Thema hat den britischen Wahlkampf derart geprägt wie die Einwanderung. Und so steht Yvette Cooper als neue Innenministerin besonders im Fokus. Die 55-Jährige möchte nun aus „Stoppt die Boote“ ein „Zerschlagt die Banden“ machen. Wenn das einer gelingt, dann der gebürtige Schottin. „Es gibt niemanden, der Yvette nicht mag“, sagte Harriet Harmann, die frühere Präsidentin des Unterhauses, einmal über sie. „Sie gibt keinem das Gefühl, ein Rivale zu sein.“
So groß sind ihre Beliebtheitswerte, dass ihr 2010 die Parteiführung angeboten wurde. Sie lehnte aus pragmatischen Gründen ab. „Ich bin wahrscheinlich noch 25 Jahre in der Politik, aber nur die nächsten zwei, drei Jahren werde ich meinen Kindern Gute-Nacht-Geschichten vorlesen.“
15 Jahre später ist der Zeitpunkt für die Politik gekommen.
David Lammy, Außenminister: Der Direkte
Künftig wird sich David Lammy häufiger ein Blatt vor den Mund nehmen müssen. 2018, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump Großbritannien besuchte, schrieb Lammy noch: „Trump ist nicht nur ein frauenhassender, Neonazi-sympathisierender Soziopath, er ist auch eine tiefgreifende Bedrohung für die internationale Ordnung.“
Und so gab es im Vorfeld einige Gerüchte, Keir Starmer könnte den 51-Jährigen doch nicht einsetzen. Doch schlussendlich konnte Lammys Einsatz gegen soziale und rassistische Ungerechtigkeit doch überzeugen. Vielleicht half auch die Freundschaft zu Barack Obama, den Lammy durch die Uni in Harvard kennenlernte. Oder das Wohlwollen des früheren Labour-Premiers Tony Blair. Lammy hatte bereits unter ihm als Juniorminister gedient.
Shabana Mahmood, Justizministerin: Die Mutige
Die frühere Anwältin und neue Justizministerin Shabana Mahmood hatte einer der härtesten Starts ins Amt: Noch im Mai hatte sie gegen die Tory-Regierung gewettert, weil diese Häftlinge frühzeitig entlassen hatte. Nun musste sie die gleiche Maßnahmen verkünden. Denn die britischen Gefängnisse sind übervoll.
Keir Starmer hatte die 43-jährige Muslimin vergangenes Jahr als Labours Justizsprecherin in sein Kernteam geholt. Sie gilt als seine Vertraute und hat doch Kritik aus den eigenen Reihen erfahren, etwa als sie sich für „altersgerechte“ und religionsadäquate Behandlung von LGBTQ-Themen in der Schule starkmachte. Ebenso kamen Anschuldigungen von beiden Seiten im Israel-Palästina-Konflikt. So stark wurde ihr gedroht, dass ihr im Wahlkampf bewaffnete Polizisten zu Seite stehen mussten.
Wes Streeting, Gesundheitsminister: Der Liberale???
Der Großvater, ein bewaffneter Einbrecher. Die Mutter, hinter Gittern geboren. Er selbst, aufgewachsen mit fünf Geschwistern. Doch dann: ein ausgezeichnetes Zeugnis bei der Matura. Eine abgeschlossenes Geschichtsstudium an einer englischen Elite-Uni in Cambridge. Und nun, ein Mann, der öffentlich über seine schwule Identität und seinen starken, christlichen Glauben spricht.
Das Leben von Wes Streeting, Englands neuem Gesundheitsminister, ist so kontrastreich wie faszinierend. Er sieht sich als „Champagner-Sozialist“, der Luxus genießt und der Gesellschaft dienen. Als Überlebender einer Nierenkrebserkrankung ist ihm der NHS besonders nahe Seine Ideen, das Gesundheitssystem zu retten, sind innovativ, sein Liebäugeln mit privaten Unterstützern aber auch umstritten.