Belgiens Außenminister befürchtet neue Anschläge
War das alles erst der Anfang? Die Terrororganisation IS bekennt sich im Internet zu den Anschlägen von Brüssel und droht mit weiteren Gewalttaten: Es werde "schwarze Tage" zur Vergeltung für die Aggression gegen den IS geben. Bei einer Razzia im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek wurden ein Sprengstoffgürtel, Chemikalien und eine IS-Flagge gefunden. "Wir fürchten, dass Personen noch auf freiem Fuß sind", sagt Belgiens Außenminister Didier Reynders. Von rund 30 mutmaßlichen Terroristen war in diversen Quellen die Rede. Auch in der Islamistenhochburg Molenbeek fanden wieder Hausdurchsuchungen statt. Belgiens Premier Michel erklärte, die Sicherheitskräfte würden sich gegen weitere Anschläge wappnen, auch eine Verstärkung der Grenzkontrollen sei beschlossen worden.
KURIER-Ticker-Nachlese: Tag des IS-Terrors
Der Flughafen und das EU-Regierungsviertel sind abgeriegelt. Das belgische Rote Kreuz rief zum Blutspenden auf, aber ja nicht in Brüssel, sondern in der Region Wallonien. Der öffentliche Verkehr bleibt eingestellt. Nur Pendlerzüge dürfen wieder fahren, die U-Bahn nicht. Der Flughafen bleibt ohnehin gesperrt.
Das Handynetz wurde nach KURIER-Informationen aus Sicherheitsgründen abgeschaltet, damit flüchtige Terroristen nicht miteinander kommunizieren können.
Kritik an Regierung
Den Belgiern ist die Islamistenszene entglitten, so der häufige Vorwurf. "Erschreckend ist, dass die Behörden von Vorbereitungen nichts mitbekommen haben", sagte etwa der Innenminister von Nordrhein-Westfalen.
Viele Brüsseler boten allen jenen Schlafplätze in ihren Wohnungen an, die in der Stadt festsaßen, weil es kein Weiterkommen gab. Mit dem Schlagwort #OpenHouse wollten sie ein Zeichen setzen. Schon im November in der Terrornacht von Paris gab es ähnliche Aktionen. Auch die Brüsseler Taxifahrer fuhren gratis. In Paris war der Eiffelturm Dienstagabend in den belgischen Nationalfarben angestrahlt. Die Franzosen leiden mit.
Mindestens 34 Menschen kamen bei den Selbstmordanschlägen ums Leben. 156 wurden verletzt, viele "sehr schwer", die meisten "schwer", so die belgische Gesundheitsministerin Maggie De Block.
Im Taxi zum Flughafen
Die Terrorserie begann gegen acht Uhr Dienstagfrüh auf dem Flughafen Zaventem. In der Abflughalle gab es zuerst Schüsse, dann eine Explosion. Das Bild einer Überwachungskamera zeigt drei verdächtige Männer. Zeugen wollen Schreie auf Arabisch gehört haben. Die Terroristen zündeten offenbar auch eine Nagelbombe, in den Körpern der Opfer sollen Nägel gefunden worden sein.
"Sie kamen per Taxi mit ihren Koffern, darin waren die Bomben versteckt", sagte der Bürgermeister der Gemeinde Zaventem, Francis Vermeiren, am Dienstag. Sie hätten die Taschen dann auf Gepäckwagen gelegt und seien in das Flughafengebäude gegangen. "Die ersten beiden Bomben explodierten", sagte Vermeiren. Der dritte Täter habe seinen Sprengsatz nicht zur Detonation gebracht.
In der Nähe des Flughafens wurden auch ein Sprengstoffgürtel und eine Bombe gefunden, die nicht gezündet worden waren, neben einem Attentäter lag eine Kalaschnikow.
Terroristen flüchtig
Kurz vor neun Uhr Früh kam es dann in der Brüsseler Metro-Station Maelbeek in der Nähe des EU-Hauptquartiers zum zweiten Anschlag. Als die U-Bahn in die Station einfuhr, kam es zur Explosion. Ein Waggon wurde völlig zerstört. Einer der dortigen Attentäter soll auf der Flucht sein. Das gilt auch für einen der Attentäter vom Flughafen. Seine zwei Mittäter dagegen sollen tot sein. Sie sprengten sich selbst in die Luft.
Brüssel wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Trotz Terrorgefahr war die Terrorwarnstufe nicht erhöht worden, als am Freitag der Top-Terrorist von Paris Salah Abdeslam in Molenbeek verhaftet wurde. Terrorexperten hatten mit einer Vergeltungsaktion gerechnet.
Auch ÖGB-Präsident Erich Foglar, seit dem Wochenende auf einem Treffen europäischer Gewerkschafter in Brüssel, gehört zu den indirekt Betroffenen der Anschläge. Weil Flüge gestrichen wurden, versuchte Foglar per Zug zurück nach Wien zu kommen. Der ÖGB-Boss war den ganzen Dienstag über de facto nicht erreichbar, ist aber wohlauf, versicherte seine Sprecherin."In Brüssel herrscht Ausnahmezustand, die Menschen stehen unter Schock. Das Leben in der belgischen Hauptstadt steht praktisch still", erzählt der österreichische Botschafter in Belgien, Jürgen Meindl, dem KURIER. Die diplomatische Vertretung befindet sich in unmittelbarer Nähe des Europa-Viertels – und wenn der Spitzendiplomat aus seinem Büro blickt, sieht er leere Straßen und Plätze.
Er hat sofort einen Krisenstab und eine Hotline (+43 1 901154411 für Österreicher in Belgien; in Österreich: 050 11504411) eingerichtet. Rund 5000 Österreicher leben und arbeiten in der EU-Hauptstadt. Bis Dienstagnachmittag wurden keine Opfer unter den Österreichern gemeldet.
Viele kamen am Dienstag gar nicht zur Arbeit, weil die öffentlichen Verkehrsmittel nicht funktionierten. Jene, die es schafften, wirkten besorgt, manche auch resigniert: "Die allgemeine Stimmung ist eher Fatalismus statt Panik", sagt Clotilde Eeman. Sie ist Beamtin im Europäischen Auswärtigen Dienst und zufällig nicht im Büro als der Terror ausbricht. "Wir wussten alle, dass uns solche Anschläge bevorstehen, wahrscheinlich auch in Zukunft noch."
Eine andere Österreicherin erfuhr am Vormittag von ihrem Ehemann, der im EU-Parlament arbeitet, von den Explosionen. "Im Radio sagen sie, es ist Kriegszustand. Ich habe mich an die unberechenbare Gefahr seit Ende 2015 gewöhnt", sagt die 40-Jährige. Sie lebt mit Mann und drei Kindern in einem Brüsseler Vorort.
Entsetzt reagierten auch die Vertreter der EU-Institutionen und die Abgeordneten des Parlaments, die am Dienstag noch Ausschuss-Sitzungen in Brüssel hatten.
Die Delegationsleiterin der SPÖ, Evelyn Regner, hofft auf eine "reibungslose Kooperation der belgischen Behörden und eine verstärkte europäische Zusammenarbeit". Othmar Karas von der ÖVP, bezeichnete die Anschläge als "hinterhältig". Er warnte davor, sich auf die Terroristen einzulassen. "Unsere Werte sind die beste Antwort auf Gewalt."
Das Café Galia ist keine echte Schönheit. Es gibt Kaffee und Croissants, schlichte Stühle und darauf gelegentlich ein schnelles Bier, hier in der Rue Lalainge. Die deutsche Ständige Vertretung ist nicht weit, die EU-Kommission auch nicht und das Europaparlament gleich um die Ecke.
An diesem Dienstag liegt das Café mitten im Zentrum der Ereignisse. Der Kaffee interessiert nicht an diesem Tag. Der Fernseher flimmert: "Angriff auf Brüssel", heißt die Sondersendung.
Andrew Wilson schaut gebannt. Er hat um kurz vor neun Uhr im Hotel Thon auf einen Kollegen gewartet. "Plötzlich sind alle zu den Fenstern gelaufen", sagt Wilson. Kurz darauf bekam er eine erste SMS. Terroranschlag in Brüssel. Erst in Zaventem, dann in Maelbeek. Direkt unter dem Hotel. Direkt unter dem Café La Galia.
Der Terror schlug unter dem Hotel Thon in der Metrostation Maelbeek zu. Sofort wird der U-Bahn-Verkehr gestoppt, ebenso Tramway und Busse. Brüssel steht still. Und bald ist das Mobiltelefon der wichtigste Anti-Terrorhelfer. Jeder greift zum Handy – für die neuesten Nachrichten; aber auch um die Lieben zu erreichen. So lange es noch geht, zu Mittag wird der Telefonverkehr unterbrochen. Nur SMS gehen noch. Und so werden Facebook und Twitter essenziell für die Verständigung. Auch für Andrew Wilson.
Wilson, 28, ist vor zwei Tagen aus London gekommen. Nun sitzt er fest. Thalys und Eurostar haben vorübergehend ihren Dienst eingestellt. Wilson trägt Krawatte und Anzug. Er ist britischer Beamter. Sein Treffen wurde abgesagt. Wie alle Termine am Dienstag in Brüssel.
"Bleiben Sie, wo Sie sind", mahnt Belgiens Premier Charles Michel. So ist auch Wilson nur eine Straßenecke weitergezogen ins Café La Galia. In seinem Rücken marschiert Polizei auf, Straßen werden abgesperrt, nur Krankenwagen dürfen passieren. Polizisten mit Sturmhauben patrouillieren auf der Straße. Wilson nippt am Kaffee. Und er tippt auf dem Handy. Freunde fragen nach, wie es ihm gehe. So geht es vielen an diesem Tag in Brüssel.
Die Metroausgänge der Station Maelbeek führen hinaus auf die mächtige Rue de La Loi. Normalerweise rauschen die Staatschefs nach EU-Gipfeln über die Straße mit dem schönen Namen "Gesetz" ins Hotel – auf vier breiten Spuren. Morgens rollt hier der Berufsverkehr. An diesem Dienstag aber ist es anders. Die Straße liegt still in der Frühlingssonne. Polizisten haben die Metrostation Maelbeek weiträumig abgesperrt. Sichtschutz wird aufgebaut. Nur ab und zu heulen Sirenen auf, Krankenwagen bringen weitere Verletzte in die Kliniken. Wer es dennoch schafft, hinter die Absperrung zu kommen, erreicht das Hotel Thon. Normalerweise verhandeln dort wichtige Leute auf wichtigen Konferenzen. Jetzt ist alles abgesperrt. Helfer bringen Decken. Das Hotel ist ein Krankenlager. Und so bleibt das Café an diesem Tag eine einsame Insel hinter Absperrbändern. Alle schauen nur auf den Bildschirm – und die Nachrichten, die nun auch ihre sind.
Peter Riesbeck ist Brüssel-Korrespondent der Berliner Zeitung
Nach den Anschlägen in Brüssel sind der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini Tränen in die Augen gestiegen. Es sei ein "sehr trauriger Tag für Europa", sagte sie bei ihrem Besuch in Jordanien. "Europa und seine Hauptstadt erleiden heute den gleichen Schmerz, den diese Region erlebt hat und jeden Tag erlebt." Es sei klar, dass die Wurzeln für diesen Schmerz die gleichen seien. "Wir sind vereint, nicht nur in unseren Opfern, sondern auch darin, auf diese Tat zu reagieren und gemeinsam Radikalisierung und Gewalt zu verhindern."
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel rief Europa zu einer geschlossenen Reaktion auf. "Die Täter sind Feinde aller Werte, für die Europa heute steht Es gehe um die Werte der Freiheit, der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens als selbstbewusste Bürger. Merkel betonte: "Unsere Kraft liegt in unserer Einigkeit. Und so werden sich unsere freien Gesellschaften als stärker erweisen als der Terrorismus."
"Hier in der Hauptstadt der Europäischen Kommission stehen wir zusammen, vereint gegen den Terror, in voller Solidarität mit den Menschen von Brüssel", sagte Kommissionssprecher Margaritis Schinas. "Wir arbeiten ruhig und effektiv weiter – wir sind hier, wir sind im Gebäude. Wir fühlen uns sicher und wir machen unsere Arbeit." Vor dem Gebäude patrouillierten Polizisten und schwer bewaffnete Soldaten. EU-Ratschef Donald Tusk versicherte Brüssel, Belgien und den europäischen Staaten die Hilfe der EU im Kampf gegen den Terrorismus. Parlamentspräsident Martin Schulz zeigte sich zutiefst bestürzt: "Diese barbarischen Taten machen mich wütend und traurig zugleich."
In Budapest dagegen machte Außenminister Peter Szijjarto umgehend die unkontrollierte illegale Einwanderung für den Terror verantwortlich, genau deshalb sei die Gefahr gestiegen. Eine Haltung, die die Rechtsregierung schon vor den Anschlägen eingenommen hatte.