Politik/Ausland

Ungarn droht, von der EU "zurückzuweichen"

Ungarns Premier Viktor Orban ist an sich in einer sehr komfortablen Lage: Er hat sechs gewonnene Wahlen hinter sich, Gefolgsleute an allen wichtigen Schalthebeln im Land und eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, womit sich jedes Gesetz problemlos umsetzen lässt. Doch eben deshalb verliere Orban an Bodenhaftung, ist in Budapest zu hören. Zehntausende Menschen haben am Dienstag in ganz Ungarn gegen die Einführung der Internetsteuer und für die Freiheit der Information demonstriert. In der Budapester Innenstadt forderten Tausende von Premier Viktor Orban, seinen Plan der Steuereinführung zu vergessen und riefen "Das lassen wir nicht zu" und "Orban hau ab".

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Nach umstrittenen Gesetzen – teure Auflagen für ausländische Banken, Medienkontrolle und Bodengesetze – ist die rechtskonservative Regierung auch unter spezieller Beobachtung der EU. Auch das demonstrative Näherrücken an Wladimir Putins Russland sorgt für Entsetzen bei europäischen Partnern und dem NATO-Partner USA. Die Reaktion aus Budapest: Parlamentspräsident Laszlo Köver lässt einen EU-Austritt Ungarns anklingen. Wenn Brüssel glaube, dass es den Staaten die Verhaltensregeln im Voraus diktieren könne, erinnere einen das an das Moskau der Vorwendezeit, richtete der enge Gefolgsmann Orbans via Echo-TV Brüssel aus. "Ich denke, wenn das die Zukunft der EU ist, dann wäre es sinnvoll zu überlegen, wie wir davon schön langsam und vorsichtig zurückweichen sollten", so Köver. "Aber ich bin doch überzeugt, dass das nicht die Zukunft der EU ist, das ist ein Albtraum, der natürlich von manchen Personen erst gemeint ist."

"Das ist typisch für die ungarische Führungsriege", heißt es in Diplomatenkreisen. "Auch Orban relativiert oft gleich im nächsten Satz seine Angriffe, um sie dann nochmals zu relativieren – so wie Köver in dem Interview." Das lasse viel Raum für Interpretationen. "Dazu kommt, dass mit all den Zwischentönen, die mitschwingen, die Übersetzungen aus dem Ungarischen heikel sind."

Köver führte via Echo-TV seine Ansichten weiter aus: Das Problem liege nicht bei der EU oder der NATO, sondern das Problem bestehe darin, dass die euroatlantische Welt "moralisch erschüttert" sei. "Dadurch, dass die kommunistische Weltordnung keine Bedrohung mehr darstellt, glauben die Regierungen, die informellen finanziell-wirtschaftlichen Machtinhaber gewisser westlichen Länder, dass sie alles tun, die aktuellen Werte täglich wechseln und andere Staaten belehren dürfen."

Gegen die USA kommen derzeit viele feindliche Töne, weil Washington vorige Woche ein Einreiseverbot gegen sechs der Korruption verdächtige Ungarn verhängt hat. Regierungsmitglieder seien nicht dabei, hieß es in den USA. In den Medien kursiert bisher nur der Name der Leiterin der Steuerbehörde.

Eben das ließ den Ärger bei vielen Ungarn – 40 Prozent leben unter der Armutsgrenze – über eine Internetsteuer hochkochen. Binnen Stunden protestierten Zigtausende gegen den Plan der Finanz, pro angefangenem Gigabyte heruntergeladener Datenmenge umgerechnet 50 Cent einzuheben. Großdemonstrationen am Sonntag und Dienstag folgten. Daran änderte auch die angekündigte Deckelung von 2,24 Euro für private Nutzer im Monat und 16 Euro für Unternehmer nichts. "Das klingt nicht nach viel, aber es ist ein falsches Signal. Und es trifft die Jungen bis ins Mark", sagt Wirtschaftsdelegierte Erika Teoman-Brenner. "Die Regierung hat den Unmut der Internet-Generation total unterschätzt." Sie glaubt aber nicht, dass Orban bis zur Beschlussfassung Mitte November total zurückrudert.