Ukraine-Wahl: "Morgen haben wir Kopfweh"
Von Stefan Schocher
Ein ausgebauter Dachboden im Zentrum Kiews, kahle Wände, Lichtergirlanden, laute Musik und eine halsbrecherische Polonaise mitsamt umstürzender Tische. Es geht an die Reste des Abends: der Sekt ist aus. Rum ist noch da. Anton füllt die Sektgläser. Designer, Musiker, Programmierer geben sich hier die Kante; es geht um Projekte, um Reisen, um die Zukunft, ums Leben, die Liebe.
Nur um eines geht es nicht: Politik. „Nicht heute“, sagt Anton. Dann schlägt der Elektronik-Musiker ein neues Thema an: Schostakowitsch und dessen Streichquartette.
Es waren Runden wie diese, in denen vor fünf Jahren nur ein Thema besprochen wurde: Politik. Die Revolution war vorüber, es ging an die Neuordnung des Landes, Behörden schraubten ihren Kontrollwahn aus Angst vor der Zivilgesellschaft auf ein Minimum zurück. Die Krim wurde von Russland annektiert, der Krieg im Osten begann und unter den Ersten, die den Kämpfen und Repressalien entflohen, waren Menschen, die die Freiheit suchten – und sie sich in Kiew nahmen. An allen Ecken schossen Projekte aus dem Boden: Bars, Galerien, Ateliers, NGOs. Ein Zustand, der durchaus bis heute anhält.
"Zwischenraum"
Wie lange noch? Anton versteigt sich doch zu einer politischen Aussage: Einen „Zwischenraum“ nennt er die Gegenwart. Und wie ist die? Er öffnet die Arme in den Raum, in dem getanzt und gejohlt wird: „So eben.“ Sicher sei nur eines: „Morgen haben wir Kopfweh.“
Morgen finden in der Ukraine Präsidentenwahlen statt. Und es ist nicht Amtsinhaber Petro Poroschenko, der in aller Munde ist, sondern dessen Herausforderer: Wolodymyr Selenskyj – Schauspieler, TV-Clown, Polit-Quereinsteiger ohne ersichtliches Programm, aber provokant und offensiv. Das zieht. Umfragen sagen ihm einen klaren Sieg voraus.
„Poroschenko liebt die Menschen nicht“, sagt Vito, ein Tagelöhner in Kiew, der sich als „Anwalt für Nichts“ bezeichnet und sich als klarer Selenskyj-Anhänger outet. Korrupt sei der Präsident. Auf Verbindungen zwischen Selenskyj und dem Oligarchen Igor Kolomoisky angesprochen, sagt er: „eine Kampagne“. Und selbst wenn: Alles sei besser als Poroschenko. Nichts habe sich verbessert unter ihm.
In seinem Büro, in einem gigantischen Sowjetbau am Rand des Zentrums, sitzt Zurab Alasania. Er ist Chef des staatlichen Rundfunks, einer Sendeanstalt, die er in einen öffentlich-rechtlichen Kanal umwandeln soll: unabhängig, analytisch, sachlich. Zurab Alasania ist ein Aktivist. Einer, der nicht davor zurückschreckt, sich mit einflussreichen Personen anzulegen. Er wurde gefeuert, berief dagegen und musste wieder eingesetzt werden – nachdem seine Absetzung zum Skandal ausartete.
Zurab Alasania klagt über Budgetkürzungen, politische Schikanen und die Machenschaften von Abgeordneten und deren Internet-PR-Firmen, die wie Söldner agierten. Er beklagt Unverständnis für die Rolle eines öffentlich-rechtlichen Kanals in der politischen Elite – und deren Verständnis, zu manipulieren. Er spricht von lautem Skandalwirbel, in dem zwar alles gesagt werden dürfe, aber vor lauter Wirbel niemand mehr vermöge, Relevantes zu hören. Und er spricht über die Sisyphos-Arbeit, als Reform-Aushängeschild einen Staatsfunk gegen interne und externe Widerstände zu einem relevanten Kanal zu machen. Er verstehe Poroschenko gewissermaßen, sagt er. Er habe bei Reformen mit denselben Problemen wie er zu tun – nur in anderem Maßstab: verkrustete Strukturen, veränderungsunwillige Personen.
Ohne Konsequenzen
Aber, und da setzt seine Kritik an, er wirft der Führung vor, nach alten Mustern agiert zu haben. Poroschenko traue nur einem engen Kreis und lasse diese Leute tun, was sie wollten. Und so seien die Skandale entstanden, die ihn so geschwächt hätten. Denn: Poroschenko habe aus diesen Skandalen nie eine Konsequenz gezogen.
Mit einem Kind vergleicht Alasania die Ukraine. Mit einem ungeduldigen Kind. Was die Leute nicht verstanden hätten: dass jeder einzelne gefordert sei – etwa im Kampf gegen Korruption – und dass Dinge Zeit brauchten. Da nimmt er sich selbst nicht aus. Auch er habe nicht damit gerechnet, wie zäh ein Reformprozess selbst in einem vergleichsweise kleinen Bereich wie einer Rundfunkstation sein könne. Und mit Wirbel könne man in einer solchen Stimmungslage eben punkten – nicht nur in der Ukraine. Nur, dass die Ukraine eine besondere Problemlage habe: den Krieg im Osten, eine militarisierte Gesellschaft. Und das sei gefährlich.
„Poroschenko war immer ein Kompromiss.“ So formuliert es Pablo, Mitte 30, Start-up-Gründer, Sympathisant der Revolution. Er nennt Selenskyj den „ukrainischen Trump“. Seine Freundin spricht von „Wahlen ohne Auswahl“. Zu Poroschenko verzieht sie den Mund. Und Selenski? Sie mimt Ekel.
Anna, Malerin, Grafikerin, Aktionskünstlerin, hat inzwischen ordentlich einen sitzen – und ein anderes Thema: ihre Skulptur. Ein riesiger schwimmender Cupcake, den sie des nächtens heimlich in einem Teich in einem Park Kiews zu Wasser lassen wollte. Das Projekt scheiterte. Aber nicht an den Behörden. Denn die lassen nach wie vor im Zweifel eher gewähren. Zu groß ist in den Reihen der Beamtenschaft die Angst davor, einen Skandal loszutreten. Und vor allem, so sagt Anna: „Es gibt kein Antragsformular für schwimmende Cupcakes – und auch keines für am Ufer abgestellte riesige, potenziell schwimmende Cupcakes.“
Und so steht er da, der Cupcake, hinter einem Schuppen am Teich. Von der Sonne ausgebleicht und eher an einen blassen Hundehaufen erinnernd. Seit zwei Jahren.
Die Zeichen stehen auf einen Sieg des Herausforderers
Am Sonntag wird gewählt. Und laut allen Umfragen ist der Ausgang der Wahl fix: Amtsinhaber Petro Poroschenko dürfte keine zweite Amtszeit bekommen. Dafür sieht alles danach aus, dass ein absoluter Politik-Neuling mit haushohem Vorsprung zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird: Wolodymyr Selenskyj, ein Schauspieler und TV-Clown.
Am Freitag sollten sich die beiden Kandidaten noch in einer live in allen ukrainischen TV-Stationen übertragenen Debatte im Kiewer Olympiastadion messen. Ein mit Spannung erwarteter Termin: denn im Wahlkampf war Selenskyj zwar polternd aufgetreten, hatte sich aber konsequent um präzise Aussagen zu seinem politischen Programm gedrückt und eine direkte Debatte mit Poroschenko vermieden.
Selenskyj ist ein Protest-Kandidat. Und sein Erfolg sorgt bei politischen Beobachtern in Kiew für Kopfzerbrechen. Dass sich in der Woche vor der Wahl zahlreiche renommierte Reformer Selenskyjs Lager anschlossen, werteten viele, die sich einen klaren West-Kurs des Landes wünschen, zumindest als kleinen Hoffnungsschimmer. Ebenso, dass spätestens im Herbst Parlamentswahlen stattfinden müssen.
Denn vor allem ein Umstand zu Selenskyj macht viele stutzig: Seine bisherige berufliche und auch in der Kampagne sichtbare Nähe zu Oligarch Ihor Kolomoisky. Als Gratmesser für Selenskyjs Unabhängigkeit wird daher vor allem betrachtet, wie dieser mit Kolomoiskys umstrittenen Firmenbeteiligungen umgehen wird. Einige davon, etwa die Privatbank, stehen unter Staatskontrolle.