Tote und Verletzte bei Raketenangriff auf Odessa
Tag 58 nach dem russischen Angriff:
Bei einem Raketenangriff auf die Schwarzmeerstadt Odessa hat es am Samstag acht Tote gegeben. Das teilte die Leitung des ukrainischen Präsidentenamtes mit. Unter den Todesopfern soll auch ein drei Monate altes Baby sein. 18 bis 20 Menschen seien verletzt, zwei Personen aus den Trümmern gerettet worden.
"Insgesamt wurden 86 Personen evakuiert. 96 Rettungskräfte des staatlichen ukrainischen Rettungsdienstes und 18 Ausrüstungseinheiten sind vor Ort im Einsatz. Die Rettungsarbeiten sind im Gange", wurde weiter berichtet. Getroffen wurde laut ukrainischen Angaben eine Militäreinrichtung und zwei Wohngebäude. Weitere Raketen sollen von der Luftabwehr abgefangen worden sein.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba schrieb auf Twitter, einziges Ziel der Raketenangriffe auf Odessa sei "der Terror". Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte seinerseits, die russischen Streitkräfte hätten mit "Hochpräzisionsraketen" ein Waffendepot der ukrainischen Armee nahe Odessa zerstört. Dort sei ein "bedeutsames" Arsenal von aus den USA und europäischen Staaten gelieferten Waffen gelagert gewesen.
Indes haben nach ukrainischen Angaben russische Einheiten ihre Angriffe gegen das Gelände des Asow-Stahlwerks in Mariupol wieder aufgenommen. Sie griffen aus der Luft an und versuchten, die von ukrainischen Kräften kontrollierten Anlagen zu stürmen, sagte Olexij Arestowytsch, einer der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, im TV. Wie ein Berater des Bürgermeisters der Hafenstadt mitteilte, hat die für Samstag geplante Evakuierung der Zivilbevölkerung nicht stattgefunden.
In den vergangenen Tagen gab es immer wieder Versuche, Zivilisten aus der Stadt zu evakuieren. Allerdings scheiterten diese Bemühungen mehrfach. Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig vor, für das Scheitern verantwortlich zu sein.
Russland hat eigenen Angaben nach inzwischen die "volle Kontrolle" über die Hafenstadt im Südosten der Ukraine. Im weitläufigen Komplex des Stahlwerks Asowstal halten sich aber nach wie vor ukrainische Soldaten und Kämpfer des nationalistischen Regiments Asow auf. Daneben sollen sich auch Zivilisten in der Fabrik versteckt halten.
Wie die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform berichtet, sollen sich darunter auch Kinder befinden. Das zeigt ein von Asow-Kämpfern veröffentlichtes Video, welches auf der Facebook-Seite des Air Command "West" geteilt wurde.
Angriffe im Donbass-Gebiet
Russische Truppen haben nach Angaben aus Kiew erneut zahlreiche Ziele in der Ukraine unter Feuer genommen. Attacken wurden unter anderem sowohl aus dem Donbass-Gebiet, als auch aus der weitgehend zerstörten Hafenstadt Mariupol gemeldet. "In Richtung Donezk führt der Feind Angriffshandlungen entlang der gesamten Frontlinie durch", teilte der ukrainische Generalstab am Samstag mit. Die stärksten russischen Angriffe zielen auf die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk.
Daneben berichtet der Generalstab von abgewehrten Sturmversuchen in Rubischne, Popasna und Marjinka. In Solote wurden Kiew zufolge zwei Menschen durch Artilleriebeschuss getötet und zwei weitere verletzt.
Die russischen Streitkräfte gaben zudem an, mehr als 20 Munitionsdepots der Ukraine zerstört zu haben. Luftgestützte Raketen und die taktische Luftwaffe hätten jeweils drei Depots vernichtet, die Raketenstreitkräfte weitere 16 Munitionslager, berichtete der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Unabhängig lassen sich die Berichte nicht überprüfen. Insgesamt seien durch die Luftwaffe 66 ukrainische Militärobjekte getroffen worden, durch Raketenstreitkräfte und Artillerie sogar 1.098 Objekte.
Verstärkung durch Söldner
An den südlichen Frontabschnitten verstärken die Russen demnach ebenfalls den Druck. Während es in Mariupol keine Lageveränderungen gibt, sollen die russischen Truppen im Gebiet Saporischja um Kämpfer der Söldnereinheit „Wagner“ verstärkt worden sein. Kiew spricht von etwa 200 Wagner-Kämpfern. Unabhängig konnten die Berichte nicht überprüft werden.
Ukrainischen Angaben zufolge haben sich russische Einheiten in mehreren Orten im Osten der Ukraine festgesetzt. Binnen 24 Stunden hätten russische Truppen Angriffe in Richtung der Stadt Slowjansk in der Region Donezk durchgeführt und in der Kleinstadt Losowa, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt in der Region Charkiw, Fuß gefasst. Das teilte der ukrainische Generalstab in seinem Bericht am Freitagabend mit.
In den Gebieten Selena Dolyna in der Region Donezk und dem etwa 40 Kilometer östlich liegenden, vor wenigen Tagen eroberten Krimenna in der Region Luhansk, bauten russische Truppen demnach ihre eingenommenen Positionen aus und bereiteten sich auf weitere Offensiven vor. Auch in dem Ort Stepne in der Region Donezk hätten sie Fuß fassen können.
Angriffe abgewehrt
Abgewehrt habe man unter anderem Angriffe in der Region Luhansk, die ukrainischen Angaben zufolge bereits zu rund 80 Prozent unter russischer Kontrolle steht, im Bereich der Stadt Rubischne und des Dorfes Nowotoschkiwske. In der Hafenstadt Mariupol setze Russland Luftangriffe fort und blockiere das Stahlwerk Asovstal, in dem sich mehr als 2.000 ukrainische Kämpfer verschanzt hätten, heißt es in dem Bericht weiter. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind in den Gebieten Luhansk und Donezk etwa 44.000 ukrainische Soldaten. Ihnen stehen dort nach anderen Angaben Einheiten der russischen Armee und der Separatisten mit einer Truppenstärke zwischen 60.000 und 80.000 Mann gegenüber. Erwartet wird, dass die russische Militärführung eine Einschließung der ukrainischen Einheiten im Donbass zum Ziel hat.
Die Partner der Ukraine liefern Präsident Wolodymyr Selenskyj zufolge nun endlich die Waffen, um die sein Land gebeten habe. Diese würden helfen, die Leben Tausender Menschen zu retten, erklärt er in einer Videoansprache in der Nacht zum Samstag. Unterdessen empfing US-Außenminister Antony Blinken den ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal in Washington und sicherte ihm weitere Unterstützung durch die USA zu, wie das US-Außenministerium mitteilte.
Schmyhal zeigte sich bei seinem Besuch optimistisch.
Die Ukraine wird nach eigenen Angaben im Krieg mit Russland sehr bald siegreich sein. „Wir sind uns absolut sicher, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird, und zwar in sehr kurzer Zeit“, sagte Schmyhal im amerikanischen Fernsehsender CNN.
Insgesamt haben seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine vor zwei Monaten ukrainische Rettungskräfte mehr als 1.200 unter Trümmern verschüttete Zivilisten befreit. Das teilte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj in einer auf Facebook veröffentlichten Videobotschaft in der Nacht zum Samstag mit. Zudem seien mehr als 70.000 Einheiten verschiedener Arten von Munition oder Sprengsätzen unschädlich gemacht worden, darunter 2.000 Fliegerbomben, sagte Monastyrskij weiter. Rund 12.000 Hektar Land seien auf Sprengfallen abgesucht worden.
Selenskyj reagierte in seiner allabendlichen Videobotschaft auch auf Russlands Konkretisierung seiner Kriegsziele. Das Gebiet, in dem Russland sich um die Rechte der Russischsprachigen kümmern sollte, „ist Russland selbst“.
Zudem rief Selenskyj die Bürgerinnen und Bürger seines Landes zum Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg auf. „Jeder muss sich bei jeder Gelegenheit gegen die Besetzung wehren.“ Die Menschen sollten nicht mit den Russen kooperieren. Jene, die in von russischen Einheiten kontrollierten Gebieten lebten, sollten diesen „so viele Probleme wie möglich machen“.
Danach "andere Länder einnehmen"
Am Freitag hatte ein russischer hochrangiger Militär gesagt, in der zweiten Phase des Krieges in der Ukraine wolle man den Donbass im Osten sowie den Süden des Landes einnehmen und da sei noch ein Zugang zu Transnistrien, wo auch eine „Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung“ festgestellt werde. Russland begründet mit dieser Argumentation auch seinen Angriffskrieg in der Ukraine. In der von der Republik Moldau abtrünnigen Region Transnistrien sind russische Truppen stationiert.
Selenskyj sagte weiter, in Russland gebe es weder Meinungs- noch Wahlfreiheit. Es gedeihe Armut und Menschenleben hätten dort keinen Wert. Die Aussagen aus Russland bestätigten zudem, was er bereits mehrmals gesagt habe: „Dass die russische Invasion in die Ukraine nur der Anfang sein sollte und sie danach andere Länder einnehmen wollen.“
Putin ist am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert mit dem erklärten Ziel, das Land zu entmilitarisieren und zu "entnazifizieren", was Kiew und der Westen als unbegründete Kriegspropaganda zurückgewiesen haben.
Unklarheiten
Um die ganze Schwarzmeer-Küste einzunehmen, fehlen den russischen Truppen noch rund 300 Kilometer. 250 Kilometer haben sie bereits eingenommen, darunter das Gebiet Cherson. Von dort aus sind es noch etwa 120 Kilometer bis in die Millionenstadt Odessa, wo die russischen Truppen besonders harter ukrainischer Widerstand erwarten dürfte. Das Gebiet ist russischsprachig, so wie der Donbass. Russland sieht das mit Rückgriff auf die Zarenzeit als seine ursprünglichen Gebiete an.
Unklar ist aber, ob die russischen Streitkräfte angesichts vieler Rückschläge in der Lage sind, solche Gebiete zu erobern. Für den Süden gibt der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow vorerst Entwarnung. "Im Süden gibt es keine Gruppierung, die heute Mykolajiw, danach Wosnessensk einnehmen und danach bis Odessa gelangen könnte", sagte der Militärexperte. "Die Schwarzmeerflotte kann heute faktisch keine Landungsoperation durchführen", meinte er.
Anzeichen für Kriegsverbrechen
Seit dem Abzug russischer Truppen vor mehr als drei Wochen sind im Gebiet Kiew nach Polizeiangaben bisher mehr als 1.000 Leichen gefunden worden. "Gerade beträgt die Zahl der Toten 1.084, die von Ermittlern untersucht und zur Gerichtsmedizin gebracht wurden", sagte der Polizeichef der Hauptstadtregion, Andrij Njebytow, am Freitag im ukrainischen Fernsehen. Es handle sich um Zivilisten, die in keiner Beziehung zur Gebietsverteidigung oder anderen militärischen Verbindungen gestanden hätten, betonte der Polizeichef.
In der Ukraine häufen sich nach Angaben des UNO-Menschenrechtsbüros Anzeichen für Kriegsverbrechen. Die russischen Streitkräfte hätten wahllos bewohnte Gebiete beschossen und bombardiert und dabei Zivilisten getötet sowie Krankenhäuser, Schulen und andere zivile Infrastrukturen zerstört, berichtete das Büro der Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, am Freitag in Genf. Neben wahllosen Angriffen und der Verweigerung medizinischer Hilfe gebe es Hunderte Berichte über willkürliche Tötungen und auch über sexuelle Gewalt. Solche Taten kämen Kriegsverbrechen gleich.
"Es gibt bereits ein Blutbad (in der Ukraine)", sagte die Sprecherin des Büros, Ravina Shamdasani. "Wir schauen besorgt auf das, was als nächstes kommt. Auch ein Krieg habe Regeln, und sie müssen respektiert werden."
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