Trotz Waffenabzugs warnt NATO vor Eskalation
Von Irene Thierjung
Auch wenn die vor zwei Wochen vereinbarte Waffenruhe in der Ostukraine am Donnerstag den zweiten Tag in Folge hielt und Kiew daraufhin mit dem Abzug schwerer Waffen beginnen wollte – Ruhe herrscht im Donbass noch lange nicht. Der Oberbefehlshaber der NATO in Europa, Breedlove, warnte gar vor einer "dramatischen Eskalation": Moskau schicke weiter Unterstützung zu den prorussischen Rebellen, die bereits am Dienstag ihre schweren Waffen von der Front abgezogen haben wollen. Es handle sich um "Tausende Kampffahrzeuge, russische Truppen, Luftverteidigung und Artillerie". Russland beschuldigte seinerseits den Westen, den Waffenstillstand zu untergraben. Immerhin sprächen sowohl die USA als auch die EU bereits von neuen Sanktionen gegenüber Russland.
Hilfe für Kiew
Sauer stößt Moskau auch auf, dass Großbritannien Militärausbilder nach Kiew schicken will. Mit diesen Plänen steht die Regierung in London allerdings nicht alleine da. Auch Polen, wo heuer bereits mehr als 2200 Ukrainer um Asyl angesucht, aber nicht bekommen haben, hat angekündigt, Militärberater zu entsenden. Ebenso Norwegen, das angesichts der "zunehmenden russischen Aggressionen" im Norden Europas – Stichwort russische Kampfjets und neu errichtete Militärbasen an den Grenzen – zudem seine Armee neu strukturieren will.
Neben NATO-Befehlshaber Breedlove warnte auch US-Außenminister Kerry vor Russland. Präsident Wladimir Putin ignoriere internationale Normen zur territorialen Integrität anderer Staaten und habe in der Ostukraine "Landnahmen direkt erlaubt, dazu ermutigt und sie erleichtert".
Laut Breedlove hat Moskau neben der Ukraine derzeit vor allem die Ex-Sowjetrepublik Moldau im Visier, deren weitere Annäherung an den Westen es verhindern wolle. In Moldaus abtrünnigem Teilstaat Transnistrien sind bereits seit mehr als 20 Jahren russische Truppen stationiert.
Auch im früher sowjetischen Baltikum mit seiner großen russischen Minderheit ist Besorgnis spürbar. Nahe der Grenze zu Estland und Lettland halten 2000 russische Soldaten derzeit als Reaktion auf die Teilnahme westlicher Länder an einer Militärparade in Estland ein Manöver ab. Höhepunkt soll ein Massenabsprung von Fallschirmjägern sein.
"Völkermord"
Zu dem Säbelrasseln zählt auch der neu aufgeflammte Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine, in dem die EU nächste Woche vermitteln will. Moskau erwartet eine weitere Vorauszahlung für seine Lieferungen und droht, die Zufuhr zu stoppen – was auch Europa betreffen würde. Streit herrscht auch darüber, wer für die Versorgung der Ostukrainer verantwortlich ist. Putin dazu: "Nicht nur, dass sich dort (im Donbass) eine humanitäre Katastrophe vollzieht, auch von der Gasversorgung werden sie (die Menschen) abgeschnitten. Das riecht nach Völkermord."
In Russland sorgt ein neues Geheimdokument für Aufregung: Das Papier, das aus dem Februar 2014 stammt, belegt, dass der Kreml schon damals genaue Pläne zur Spaltung der Ukraine und zur Annexion der Krim gehabt hat. Veröffentlicht hat es die Nowaja Gazeta, eines der letzten regierungskritischen Medien des Landes.
Im März vergangenen Jahres sicherte sich Russland die Krim – Moskau holte die Halbinsel „heim“, wie es damals hieß. Man ließ den Schritt als ungeplant und zufällig aussehen, tatsächlich aber dürfte viel Strategie dahinter gesteckt haben: In dem Papier, das noch zu einer Zeit entstanden ist, als Viktor Janukowitsch Präsident in Kiew war, beinhaltet nämlich einen genauen Sieben-Punkte-Plan zur Destabilisierung der Ukraine. Konkret erwähnt werden die Förderung prorussischer Kräfte im Osten der Ukraine, das Ziel, die Regionen im Osten des Landes eng an Russland zu binden und der Anschluss der Krim und anderer Landesteile.
Referenden geplant
Ein ganzer Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, wie man Territorien der Ukraine in die Russische Föderation integrieren könnte: Man müsse eine "Föderalisierung" oder gar eine "Konföderation“ anstreben, später einen Beitritt der ost- und südostukrainischen Gebiete zu einer Zollunion und abschließend eine direkte "Souveränisierung" mit anschließender Annexion an Russland. Passieren soll dieser letzte Schritt mittels Referenden - Zitat. „Am allerwichtigsten ist es, dass die Weltöffentlichkeit wenig Grund hat, an der Rechtmäßigkeit und der Aufrichtigkeit solcher Volksabstimmungen zu zweifeln.“
Zudem weist das Papier auf die Notwendigkeit einer PR-Kampagne in russischen und ukrainischen Medien hin: „Die Unterstützung für den Anschluss der ostukrainischen Regionen an Russland müssen breite Kreise der Gesellschaft in Russland selbst erklären.“
Unklare Urheberschaft
Von wem das Papier stammt, ist unklar. Die Nowaja Gazeta schreibt, sie habe es „von einer vertrauenswürdigen Quelle aus dem Kreml“ zugespielt bekommen – und vermutet, dass es aus der Feder des Oligarchen Konstantin Maofeews stammt. Der Multimillionär, der sein Vermögen in der Telekommunikationsbranche gemacht hat, ist immer wieder als Strippenzieher im Ukraine-Konflikt aufgetaucht – er gilt auch als Finanzier der selbst ernannten Volksrepublik Donezk.